Fall

Der Fall ist die Schnittstelle zwischen dem Rechtsdiskurs und der Medizin, Literatur, Geschichte oder Pädagogik. Der Fall hat eine Geschichte, er kennt immer einen oder mehrere Akteure und läuft auf ein Ergebnis zu, das in der jeweiligen Disziplin behandelt wird. Insofern ist jeder Fall ein Einzelfall. Welche Bedeutung der Einzelne für die Disziplin haben kann, lässt sich historisch etwa am Fall des Pierre Rivière aus dem Jahre 1835 ablesen oder an den unterhaltenden Verbrechensgeschichten des Pitaval. Sie führt zu Einsichten in die Konstruktion des Rechtsfalls anhand eines wiederkehrenden Fallschemas. Grenzen für die disziplinäre Fallkonstruktion zeigen sich an Phänomenen der Makrokriminalität (Auschwitz).
Der Fall Rivière ist der semiotisch am besten aufbereitete Rechtsfall. Michel Foucault (1975) hat ihn in der Zeitschrift “Annales d´hygiène publique et de médecine légale” von 1836 entdeckt und mit seinen Seminarteilnehmern, den Philosophen, Psychologen und Analytikern Deleuze, Fontana, Castel, Peter und Jeanne Favret (Foucault 1989, 24f) ausgearbeitet. Vorgefunden wurden zunächst nur drei medizinische Gutachten über einen Mörder, und zwar einen normannischen Bauernjungen, der seine gesamte Familie mit einer Spitzhacke erschlagen hatte, geflohen war, eine Zeitlang allein im Wald lebte, dann gefangengenommen wurde und in der Gefangenschaft einen Geständnisbericht, ein sogenanntes “mémoire”, schrieb, in dem er die Tat aus seiner Sicht schilderte. Die Gutachten, die von einem Landarzt, einem städtischen Mediziner und schließlich von einem Experten der damaligen Gerichtsmedizin stammten, kamen zu entgegengesetzten Ergebnissen. Schließlich wurde der Täter, Pierre Rivière, nicht hingerichtet, sondern “wegen Verirrung nicht nur der Seelenvermögen, sondern auch der Funktionen des Verstandes” im Zuchthaus eingesperrt, wo er 1840 starb. Während der Zeitschriftenbericht von 1836 neben den Gutachten auch bereits Zeugenaussagen und Teile der Akten des Mordprozesses enthielt, gelang es Jean-Pierre Peter darüber hinaus, im Archiv von Caen das komplette mémoire und die dazugehörigen weiteren Akten sicherzustellen. Foucault (1989, 25) erkannte, dass dieser Fall die Ausdifferenzierung zwischen juristischem und medizinischem Diskurs beschreibt. Er veröffentlichte alle gefundenen Dokumente (1975, 17-195) und kommentierte sie zusammen mit eigenen Beiträgen der Seminaristen. Alle Beteiligten rühmen die semiotische Prominenz des mémoire, dessen Schönheit – die Foucault (1975, 9-12) hervorhebt – den Fall zum “Punkt Null” für die Eichung des Abstands zwischen Rechts- und Medizindiskurs macht, während er kriminalistisch und juristisch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben vielen anderen und als “Affaire” berühmteren Fällen von Elternmord steht.
Die juristische Kasuistik sammelt Regel/Ausnahme-Verhältnisse, die in Form abstrakt-genereller Sätze nicht mehr oder noch nicht gefasst werden können. Der Regelcharakter der verschiedenen Kasus bleibt unausgedrückt (Birmingham 1980). Für Juristen wie für systematische Philosophen ist diese Unausdrücklichkeit der Kasuistik anstößig. So führt Hegel in § 209 der Philosophie des Rechts aus, das Gesetz trete mit der “Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall” in die Sphäre des Quantitativen ein. Man könne im Hinblick auf den Fall zwar fragen, wieviel Umstände zu seiner Beschreibung notwendig seien. Die Erkenntnis des Falles “in seiner unmittelbaren Einzelheit” enthalte aber für sich kein Rechtsprechen (1821, § 227), denn sie stehe jedem gebildeten Menschen zu; erst die Subsumtion des so qualifizierten Falles “unter das Gesetz” (§ 228) mache den Richterspruch aus. Der Richterspruch beruht insofern auf dem semiotischen Versuch, Relationen zwischen Fallumständen und Folgen herzustellen und in Form einer Regel zu formulieren, die den Umstand juristisch “erheblich” macht.
Die Regel als Zuordnungsmerkmal ist ein Element der Codierung; wenn sie formuliert ist, darf man als Jurist das Feld der ungeliebten Kasuistik verlassen. Doch ist es eine noch nicht ausreichend beschriebene Besonderheit in der Rechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts, dass immer mehr Juristen an Fällen arbeiten und die Regelformulierung scheuen und entsprechend wenig festgelegte Operationsweisen für den gesetzlichen Code existieren. Das Verhältnis zwischen Regel und Fall wird semiotisch zugunsten des Falles verändert (Lüderssen 1996, 285ff). Was einst fachlich verkürzt und juristisch verknappt worden ist, wird heute ästhetisiert und teilweise bewusst ausgedehnt (Brooks und Gewirtz 1996). Der “Fallbereich der Norm” (Müller 1997, Ziff. 323.2) wird wichtiger als die Norm. Juristisch kann man das als Methodenwechsel zur Abduktion verstehen (Lüderssen 1996, 291). Amerikanische Rechtstheoretiker feiern demgegenüber das Ende der traditionellen “case law method” als Einbruchstelle für die Dekonstruktion (Manning 1995).
Die Konstruktion des Rechtsfalls verlangt mehrere voneinander unabhängige semiotische Operationen, die auf Elementen des Justizdispositivs beruhen, nämlich der Setzung von Grenzen und dem Willen zur Wahrheit. Der Fall wird schriftlich formuliert (“erzählt”) und im Hinblick auf das Vorliegen von Tatsachen jedenfalls potentiell ermittelt (“nachgewiesen”). Er ist nicht nur ein Kunstprodukt. Für die Eröffnung der Fallerzählung wird zunächst die Sender/Empfänger-Beziehung verändert. Es erzählt ein Jurist, der mit der Erzähleinheit (dem “Sachverhalt”) auf eine bestimmte Bedeutung des Rechtszeichens (als “gerechter Entscheidung”) referiert. Die künstlich hergestellte Einheit wird fortschreitend in neue binär markierte Formen zerlegt, nämlich im ersten Schritt in Täter und Tat (was die wiederkehrende Subjekt-Prädikat-Struktur des Sachverhalts begründet), dann in bewiesene und zweifelhafte Merkmale der Tat (womit Wirklichkeit und Schein geschieden werden) sowie in Motiv und Vorsatz des Täters (die Zuschreibungen erfordern), ferner in Schaden des Opfers und Erfolg der Tat (aus denen sich Wert und Unwert ablesen lassen). Diese letzten Operationen erfordern Phantasie oder Ermittlungen. Juristen können sich Phantasie erlauben, die Beweisführung selbst wird zur polizeilichen Aufgabe. Der Fall hat dann mit dem ursprünglichen Ereignis nicht mehr viel gemein.
Das Fallschema ergibt sich nach den von Bernard Jackson entwickelten “semiotics of law” aus Ebenen der semantischen Typisierung (Jackson 1989). Vorgezeichnet wurden diese Ebenen durch Greimas und die von ihm begründete “Pariser Schule”. Greimas favorisiert das Sprachschema der Subjekt-Prädikat-Objekt Form, in der Aktanten sich auf einen Erfolg zubewegen. Dabei bewegt sich die Handlung im semantischen Sprachviereck, wie es Greimas entwickelt hat, juristisch in Form der Entgegensetzung von Gebot und Verbot einerseits und Gebot und Nichtgebot bzw. Verbot und Erlaubnis andererseits. Diese Kontrapositionen wurden in Zusammenarbeit mit Eric Landowski zunächst für eine Vorschrift des französischen Handelsrechts (Greimas 1976, 79-128) konkretisiert. Landowski (1988) hat sie nicht bis auf die juristische Fallkonstitution ausgedehnt. Das geschieht erst bei Jackson (1995, 1996), der die Präjudizien der neueren englischen Rechtsprechung zum gutgläubigen Erwerb dem anfechtbaren Erwerb aufgrund nichtigen Rechtsgeschäfts gegenüberstellt. Neben der Zivilrechtsprechung stehen Beispiele aus Strafsachen. So untersucht Jackson die Einlassung einer Angeklagten und ihre Wirkung auf die Jury nach Strukturen der Normalform einer Geschichte. Die wegen Mordes Angeklagte verteidigte sich mit folgender Einlassung: Man habe die ihr gehörige Mordwaffe entwendet, und sie sei von Komplizen des unbekannten Mörders im Haus des Opfers festgehalten worden. In der Zwischenzeit sei die Tat begangen und die Leiche im Kofferraum des Autos der Angeklagten weggebracht worden. Dies sei geschehen, weil die Mörder eine Spur zu der Angeklagten hätten legen wollen, die ihren Wagen nämlich anschließend nichtsahnend zum Wegfahren benutzt habe. Die Zusammenbindung so vieler unwahrscheinlicher Einzelheiten hat keinen Erfolg. Wirksam wird eine Fallkonstruktion, die Jackson (1995, 164) als “Geschichte von der verschmähten Liebhaberin” bezeichnet (“the stereotypical narrative of the spurned woman lover”). Er stößt dabei wie auch Sauer im Rahmen von Transkriptionen auf Mythisches als Quelle für Konstruktionen (Sauer 1989, 1997).
Literatur:
Birmingham, Robert (1981), “Recht als Syntax”. Zeitschrift für Semiotik 3: 197-206
Brooks, Peter, und Gewirtz, Paul (1996), Law´s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law. New Haven and London.
Foucault, Michel (1973), Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz. Frankfurt a.M.1975.
ders. (1989), Résumé des cours 1970 – 1982. Paris.
Greimas, Algirdas Julien (1976), Du sens II. Essais sémiotiques. Paris.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1807), Phänomenologie des Geistes. Zit. nach der Werkausgabe Frankfurt a.M. 1969-71: Suhrkamp.
ders. (1821), Grundlinien der Philosophie des Rechts. Zit. nach der Werkausgabe Frankfurt a.M. 1969-71: Suhrkamp.
Jackson, Bernard (1989), Law, Fact, and Narrative Coherence. Liverpool.
ders. (1995), Making Sense in Law. Linguistic, psychological and semiotic perspectives. Liverpool.
ders. (1996), Making Sense in Jurisprudence. Liverpool.
Landowski, Eric (1988), La societé réfléchie. Essais de socio-sémiotique. Paris.
Lüderssen, Klaus (1996), Genesis und Geltung in der Jurisprudenz. Frankfurt a.M.: Manning, Peter (1995): “Postmodernism and the Law”. In: Janikowski, W. Richard, und Milovanovic, Dragan (eds.): Legality and Illegality. Semiotics, Postmodernism and Law. New York: 5-22.
Sauer, Christoph (1989), “Der wiedergefundene Sohn. Diskursanalyse eines Strafverfahrens vor dem niederländischen Politierechter”. In: Hoffmann (ed.): 63-128.
ders. (1989), “Mythisches als Quelle für Deutungen und Konstruktionen im Strafverfahren”. In: Frehsee, Detlev, Löschper, Gabi, und Smaus, Gerlinda (eds.), Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe. Baden-Baden: 261-282.
Seibert, Thomas-M. (1996), Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. Berlin: Duncker und Humblot.