Ausnahmezustand

Zu den postmodernen Aphorismen gehört ein Satz von Carl Schmitt, in dem die „Ausnahme“ in einem Begriffskompositum verwirrende Geschichte gemacht hat. Der Satz ist kurz, er ist der erste Satz der„politischen Theologie“ und lautet:

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

Man bemerkt schon an der Satzstellung, dass es dem Autor eigentlich um Souveränität geht. Souveränität – könnte man im Regel/Ausnahme-Denken sagen – ist das, was sich dem Regel/Ausnahme-Verhältnis nicht fügt, sondern es aktiv gestaltet. Der Souverän – so denken manche Theoretiker – müsse sich nicht um Regeln kümmern, weil er ja entscheiden könne, wie er wolle. Das ist das zweite irritierende Schlüsselwort des Schmittschen Aphorismus: Der Souverän „entscheidet“. Auch an dieser Stelle ist die These nicht sehr praxisnah. Im juristischen Verfahren gehört die Entscheidung zu den Routinefunktionen des Regel/Ausnahme-Denkens, in dessen Rahmen nichts souverän wirkt. Entscheidungen mögen und müssen sich sogar von der schlichten und umstandslosen Regelorientierung lösen. Mit einer Entscheidung müssen Regelgeltung und ausnahmsweise Berücksichtung (oder „Unerheblichkeit“) festgestellt werden. Das kann man auch „souverän“ nennen. Aber es bezieht sich niemals auf Zustände, sondern immer nur auf einzelne Ausnahmen. Ausnahmen, die nicht mehr einzeln sind, gehen in die Formulierung der Regel ein.

Im Übrigen ist der Ausnahmezustand ein staatsrechtlicher Begriff, den die Weimarer Reichsverfassung kannte. Es ist außerdem ein Ausdruck, der umschreiben soll, dass wegen Krieg, Revolution und höherer Gewalt gewöhnliches Recht nicht gilt, sondern neu gesetzt werden darf – „Notstand“ nennt man das in moderner Verfassungsdogmatik und hat versucht den Notstand doch noch rechtlich einzurahmen. Der berüchtigste Fall des Ausnahmezustands bezieht sich auf eine politische Situation, in der Krieg, Revolution und höhere Gewalt gar nicht herrschten, sondern von den Machthabern, die es in diesem Moment eigentlich erst werden wollten, später herbeigeführt worden sind. Datiert wird der Fall auf den 24. März 1933 und das Gesetz „zur Behebung der Not von Volk und Reich“.

Zeichenpraktisch verschafft der Ausnahmezustand eine Legitimation, neue Norminhalte zu setzen und sich dabei an Nichts gebunden zu fühlen. Carl Schmitt hat darin ein Merkmal für die Rechtsentscheidung gesehen, die normativ gesehen aus dem Nichts geboren sei. Juristen hat das von Anfang an irritiert und Schmitt hat das auch so beabsichtigt. Darin liegt der anhaltende Reiz einer solchen Provokation. Denn Juristen bezeichnen sich selbst gerne als gebunden, sie – insbesondere die Gerichte – können nicht anders, als sich gebunden zu verstehen. Das ist so richtig, wie es falsch ist. Von der Zeichenform her gesehen, kann man immer auch anders. Die Entscheidung ist kontingent (sonst wäre sie keine – sondern Kausalwirkung). Andererseits ist es durchaus richtig, dass Norminhalte nicht beliebig gesetzt werden, sondern vom jeweiligen Entscheider – insbesondere von den Gerichten – an Regeln gebunden werden. Das Gericht bindet sich damit an einen Inhalt, der nicht bereits zuvor gilt, sondern im Entscheidungsprozess selbst erst konkretisiert wird. Auch das irritiert viele bis heute.

Unter dem Titel „Ausnahmezustand“ hat Giorgio Agamben (2003) eine kleine Schrift veröffentlicht, die an den zitierten Satz von Carl Schmitt anknüpft und die Irritation oder den Ausnahmezustand zur Regel erklärt oder – in den Worten von Agamben – zum “Dispositiv, das in letzter Instanz die beiden Seiten der rechtlich-politischen Maschine zum Ausdruck bringen muss und dabei eine Schwelle der Unentscheidbarkeit errichtet, zwischen Anomie und Nomos” (2003, 101). Es handele sich dabei nicht um ein Sonderrecht, sondern um die„Schwelle“, an der jede Rechtsordnung stehe (Agamben 2003, 11). Denn das Gesetz als solches bleibe zwar in Kraft, seine Anwendung werde aber suspendiert (41). Den Ausnahmezustand sieht Agamben deshalb in der Möglichkeit „außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören“ (45). Der Begriff gewinnt damit eine Dramatik, die er unter Juristen nicht hat. Agamben verstärkt diesen Eindruck, indem er den Begriff der„Gesetzeskraft“ zu einem terminus technicus der Rechts befördert (begrifflich könnte das nur für„Rechtskraft“ gelten) und meint, damit würde eine Trennung zwischen der Anwendbarkeit einer Norm und ihrem Charakter als Gesetz (nicht als Verordnung, Erlass o.ä.) eingeführt (48). Die Gesetzeskraft kann dann – so wie Agamben es sieht -nach Belieben auf alle als souverän verstandenen Akte jeder Art von Herrschaft erstreckt werden.

Literatur:
Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 8. Aufl. Berlin 2004.
Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), (dt.:)Frankfurt a.M. 2003.