Diskurs

Der juristische Diskurs organisiert eigenes Wissen (das der Rechtsdisziplin), er kontrolliert die Beteiligten, die als Parteien/Antragsteller/Angeklagte einbezogen oder als Publikum ausgeschlossen sind und teilt die Erfolge zu, die Beteiligte erringen können. Der Diskurs ist damit ein selbstständiges, nicht personales, sondern objektgebundenes Zeichensystem. Damit erweist sich die Jurisprudenz als Disziplin im Sinne von Foucault (1971, 32f), in der nicht nur die Summe dessen tradiert wird, was hinsichtlich einer bestimmten Sache ausgesagt werden kann, sondern gleichzeitig auch die Gesamtheit der Formations-, Kohärenz- und Kontextregeln beachtet werden muss. Die “herrschende Meinung” mag sich später als “unwahr” erweisen, sie herrscht gleichwohl als formierter Kommentar der legitimierten Sprecher in einem ausgewählten Feld, zu dem nicht jeder Zugang hat. Diese Beobachtungen stehen in einem akademisch offenen Widerspruch zur sogenannten diskurstheoretischen Begründung des Diskurses.

Als Diskurs hat Habermas in frühen Schriften (1973, 148) eine handlungsentlastete, zwangsfreie Äußerungssituation verstanden, in der die Wahrheit einer Aussage, die Richtigkeit der dafür unterstellten Normen und die Wahrhaftigkeit der dabei Beteiligten durch sprachliche Mittel der Alltagskommunikation überprüft, beraten und verändert werden können. Das Justizdispositiv war damit nicht gemeint. Den ursprünglichen, politischen Anspruch hat Habermas zwar niemals aufgegeben, später aber hinter ethische und begründungstheoretische Fragen zurücktreten lassen. Den Einstieg dafür bietet eine von Alexy (1978, 263-272) angebotene “Sonderfallthese”, derzufolge in Rechtsverfahren die allgemeinen Diskursprinzipien nur in besonderer Weise ausgeformt werden. So überprüft man in den Foren des Rechts die Ehrlichkeit eines Versprechens (diese Sache ist einwandfrei), die Angemessenheit einer Maxime (du sollst nach einem Unfall den Geschädigten informieren) oder den prognostischen Gehalt einer Aussage (der Verurteilte wird in Zukunft keine Straftat mehr begehen). Gebraucht werden dafür nur die Mittel des Diskurses selbst (Beschaffenheitszusagen stehen im Beipackzettel, nicht in der Produktwerbung; Verhaltensregeln macht man sich selbst oder übernimmt sie von Normerzählern, denen man glaubt; man glaubt dem, der sich verlässlich und loyal verhält).

Nun ist durchaus fraglich, ob das Rechtsverfahren solchen konsenstheoretischen Überprüfungen folgt oder nicht. Die These, das Recht sei ein Sonderfall des allgemein moralischen Diskurses, wird etwa von Alexy so vertreten, dass sich daran die Legitimität einer Rechtsnorm überprüfen lassen müsste (Habermas 1992, 281-287): Dient sie der Wahrheitsfindung? Was trägt sie zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei? Lässt sie sich vor einem Forum allgemein informierter, moralisch kompetenter Laien rechtfertigen? Andererseits ist offensichtlich, dass im Recht neben Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit noch manch andere Zwecke verfolgt werden und viele andere Formen auftauchen, die man vor dem allgemeinen Diskurs nicht rechtfertigen könnte: Der Angeklagte darf lügen. Die Prozesspartei darf alles in Zweifel ziehen, was ihr zweifelhaft erscheint. Im Prozess kann man immer nein sagen. Man muss nie zustimmen. Der Prozess wird durch einen Machtspruch beendet. Wer sich dem nicht fügt, wird am Ende manchmal mit der Gewalt einer Zwangsvollstreckung gezwungen. Wenn man das alles nur als Besonderung des allgemein moralischen Diskurses auffasst, braucht man einen langen, idealistischen Atem. Dieser lange Atem soll in der Darstellung von Habermas den kantischen kategorischen Imperativ neu beleben.

Die im deutschen Sprachraum von Alexy (1978) und Günther (1988) auf juristischer sowie von Habermas (1992) und Apel (1988) auf philosophischer Seite entwickelten Diskursvorstellungen stehen in Gegensatz zum romanischen Diskurskonzept, wie es im Anschluss an Foucault (1976) von Lyotard (1983) und Derrida (1991) vertreten wird. Die persönliche Debatte zwischen Habermas und Apel hie und Lyotard und Derrida dort hat Manfred Frank, der sie im Centre Pompidou hätte moderieren sollen, als “Geistergespräch” schriftlich dargestellt (Frank 1988, 9). Dabei wird die Kontroverse unzureichend verstanden, wenn man etwa die an Habermas und Alexy anschließende liberal-rechtsstaatliche Diskurslehre als eher praxis- und aufklärungsorientiert versteht und gegen die hermetischen Texte und die macht- und herrschaftsorientierten Analysen in der Foucault-Nachfolge ausspielt (Welsch 1996, 45f). Auf der justizpolitischen Linken agierte nicht nur Foucault (1976, 16) mit der “Groupe Information de la Prison” (GIP), sondern auch Jean-François Lyotard, dessen Hauptwerk “Le différend” gerade eine Absage an die herrschafts- und machtorientierte juristische Diskurshegemonie darstellt. Das Rechtszeichen erhält bei Lyotard den unauflöslich fragenden Charakter des “Arrive-t-il?” (1987, 196), wobei es in der Konzeption der Postmoderne Sätze sind, die den einzigen verlässlichen Anschluss bieten (Frank 1988, 35). Sätze zwingen zum Anschluss, sie verlangen Antwort, und sei die Antwort Schweigen. Der Inhalt des Rechts bleibt dabei undefiniert. Statt dessen wird der Empfänger gezwungen, sich an die übermittelten Zeichenketten anzuschließen. Sätze werden, als Äußerungen betrachtet, zum Ereignis, mit dem man fertigwerden muss. Dabei setzt Lyotard mit kleinsten Zeichenformationen an. Für die Genese einer Diskursart läßt er die Verkettung zweier Sätze durch eine Regel der Verknüpfung ausreichen. Das grundlegende Ereignis ist danach das Auftreten eines Satzes, sein “Ankommen”. “Une phrase arrive. Comment enchaîner sur elle?” fragt Lyotard (1983, 11) den Leser; und er überlässt es ihm, mit welchem Satz er sich an den ersten anschließen wolle, während die Jurisprudenz die Fortsetzung anbefiehlt. Der Rechtssatz als Norm verlangt danach eine besondere Anschlussform, nämlich dem gesendeten und sich ereignenden Normsatz zu glauben (Seibert 1996, 189ff). Das Gesetz enthalte “ein Paradoxon des Glaubens”, denn es befehle unbedingte Pflichten derart, dass Antigone ihren Bruder beerdigen muss. Es statuiert in der von Lyotard beobachteten Diskursregel unumkehrbaren Gehorsam. Paradox ist das insoweit, als niemand weiß, ob “der Befehl, demgemäß Abraham seinen Sohn opfern sollte, einsichtiger ist als ein Erlass, der die Razzia, den Abtransport, die Konzentration, den langsamen oder den schnellen Tod anordnet” (Lyotard 1987, 183). Wenn die Norm verpflichtend ist und wenn man als Normadressat in der Empfängerposition verbleiben muss, dann gleicht das Opfer, das Gott von Abraham verlangt, dem Vergasungsbefehl an die SS (Lyotard 1987, 185). Im Sinne von Lévinas beschreibt Lyotard dabei “das Skandalon der Verpflichtung” (1987, 188-195). Dem normativ bindend Verpflichteten ist es versagt, für sich persönlich den Sinn der Pflicht einzuklagen. Für dieses Skandalon gibt es im Rahmen eines postmodernen Rechtsverständnisses keine begriffliche Lösung. Im Rahmen der Norm bleibt die pragmatische Frage des Arrive-t-il? offen.

Literatur:
Alexy, Robert (1978), Theorie der juristischen Argumentation. Frankfurt a.M.
Apel, Karl-Otto (1973), Transformation der Philosophie. Band II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a.M.
Derrida, Jacques (1991), Gesetzeskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (= 1994: Force de loi. Le “fondement mystique de l’autorité”). Paris.
Foucault, Michel (1971), Die Ordnung des Diskurses, unter:
Frank, Manfred (1988), Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespäch zwischen Lyotard und Habermas. Frankfurt a.M.
Habermas, Jürgen (1973), Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.

Ders., Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders.,

Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 9–30.

Ders. (1992), Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M.
Lyotard, Jean-François (1983), Le différend. Paris: Minuit. Deutsch von J. Vogl: Der Widerstreit. München 1987.
Seibert, Thomas-M. (1996), Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. Berlin.
Welsch, Wolfgang (1996), Transversale Vernunft. . Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M.