Das Rechtsgefühl wird in der modernen Juristenarbeit selten behandelt und wirkt ähnlich fragwürdig wie das Krankheitsgefühl in der Medizin. Modernes Recht will technisch und wissenschaftlich sein und stellt das Expertentum in den Vordergrund. Das beginnt damit, dass Erzählungen und Fälle sofort in Tatbestände übersetzt werden und Gefühle nach Zielen und Zwecken befragt werden. Das wirkt meist kühl und gilt den Beobachtern als Maßstab für Sachlichkeit (Sobota 1990). Der Darstellungseifer steigt jedoch, wenn nicht nur ein Einzelfall, sondern viele Einzelschicksale, verbunden mit dem Anspruch auf allgemeine Wohlfahrt, den Gang der Geschichte bestimmen. Wenn Juristen im Einzelfall noch dazu neigen, eine Entscheidung einfach deshalb als rechtens zu erklären, weil das Recht sich nur so und nicht anders wie entschieden darstelle, muss in genereller Perspektive immer auch das gesetzte Recht selbst gerechtfertigt werden (Habermas 1981, 535). Das ist ohne Pathos nicht möglich. Die Rechtsdarstelllung ist insofern keineswegs so gefühlsfrei, wie sie scheint; sie wird zwar isoliert vom Lachen, von der Ironie und von scherzhaften Exkursen, aber was immer – als Hauptsache und mit tiefem Ernst vorgetragen – inhaltlich ausgeführt wird, zehrt von einem Ungenügen an der festgestellten Realität. Wer Recht spricht, muss von mehr sprechen als von Zwecken, Interessen und Zwängen. Das führt heute zu einer Verbindung von juristischer Sachlichkeit und politischem Enthusiasmus, wie sie als Merkmal der Rechtswissenschaft erst vorgestellt wird, seitdem der politische Liberalismus – dem Anspruch nach: metaphysikfrei oder relativ unabhängig von vorausgesetzten Annahmen – die “Zivilgesellschaft” zu begründen versucht (Habermas 1992).
Der Enthusiasmus in der Rechtsdarstellung beginnt, wenn Recht in genereller Perspektive proklamiert wird. Rechtsgründe werden modern für ganze Völker proklamiert, sie werden massenhaft geglaubt, es wird dafür gekämpft und nicht selten sogar gestorben. Kein Herrscher ersetzt nur einfach einen anderen, kein Volk dehnt einfach sein Herrschaftsgebiet aus; Revolutionen und Expansionen versprechen etwas. Sie werden zum Zeichen von etwas anderem (Berman 1991, 43), und das andere soll besser sein. Die neuzeitliche revolutionäre Gewalt steht für bessere Verhältnisse: für eine neue Ordnung, für wirkliche Freiheit, für wahre Gerechtigkeit. Was das sei, definiert niemand, aber die Revolution partizipiert dennoch an der Idee einer positiven Veränderung. Historisch als erste erklären die amerikanischen Siedler sich von der englischen Krone für unabhängig, indem sie eine Verfassung entwerfen. Die französische Revolution differenziert schon zwischen Recht und Gesetz; Robespierre wird mit der These zitiert: “Die Freunde der Freiheit geraten häufig in Verwirrung zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und dem Wohl der Verfassung bzw. des Gesetzes selbst … Ich, meine Herren, rufe das Gesetz an, das die Grundlage unserer Freiheit ist, die Prinzipien der Revolution, das höchste Gesetz, das öffentliche Wohl” (Guilhaumou 1989, 100).
Die verfassunggebende Nationalversammlung verabschiedet bereits im Jahre 1789 eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und schafft ein über die Jahrhunderte wirkendes Vorbild (Lyotard 1983, Notice Déclaration de 1789). Rechtspflichten enthalten seitdem auch Ansprüche, unter anderem bürgerliche Ansprüche gegen den Staat. Auch der deutsche Versuch, im Jahre 1848 eine demokratische Einheit herbeizuführen, drückt sich in einem Verfassungspatriotismus aus (Habermas 1990, 149ff), der den realpolitischen Misserfolg überdauert. Selbst die russische Revolution von 1917 führt nach der eigenen Lesart zur “Diktatur des Proletariats” als Herrschaft einer gesellschaftlich fortschrittlichen Klasse, in der das Recht verschwände, wenn und soweit es wirkliche Praxis der Gesellschaft geworden wäre. Motivationskraft beziehen alle diese Revolutionen und Veränderungen aus der Idee eines gerechten Ausgleichs angesichts ungerechter Wirklichkeiten (Berman 1991, 53). Selbst die Schrecken kommunistischer Regimes werden während der 70 Jahre ihrer politischen Existenz durch Erinnerungen an die Gleichheits- und Fortschrittsverheißung überdeckt (Lyotard 1983, Nr. 93). Das Recht, das hinter gesellschaftlicher Gewalt und politisch motiviertem Mord steht, lässt reales Leid vergessen. Der Tod unter der Guillotine (Arasse 1987) soll mehr bedeuten als den Tod. Man kann das bestreiten, aber man sieht, das “Schwert des Gesetzes” doch rechtlich definiert, damit es das Volk “im Strafvollzug würdig repräsentiert” (Arasse 1987, 99). Kant (1798) hat gerade die französische Revolution als jenes Ereignis bezeichnet, das für die “juristische Fakultät” Zeichenqualität habe.
Die juristische Fakultät wird von Kant befragt, ob es in der Geschichte irgendeine Tendenz gebe, die auf moralische Besserung und humanen Fortschritt verweise. Wenn man dabei an eine einzelne Erfahrung anschließe, dann – so folgert Kant – kommt das Ereignis nicht wegen seines wirklichen Ablaufs in Betracht, sondern nur wegen der Teilnahme der beobachtenden Menschheit. Die Revolution verführt also auch distanzierte Beobachter zu einem Enthusiasmus, der sich nicht aus den empirischen Qualitäten des Ereignisses selbst speist (Lyotard 1986, 45ff), sondern – selbst wenn die Akteure Elend und Gräueltaten anhäufen – den moralischen Charakter der Anteilnehmenden beweist. Man sieht aus dem realen Ablauf eine vernünftige Idee erwachsen. Diese Prognose ist die Geburtsstunde des Rechtszeichens, das bei Kant (1798, A 142) “Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon)” heißt. In der Geschichte folgt nicht einfach nur ein Ereignis auf ein anderes, die Abfolge verweist auf einen sittlichen Anspruch; in ihr entfaltet sich die humane Praxis besserer, besser verstandener und besser begründeter Verhältnisse – eine Entwicklungslinie, die im weiteren vor allem Hegels Rechtsidee bestimmte. Das Zeichen versteht Lyotard (1986, 75) als Index für eine freie Entscheidung, die nicht nur willkürlich ist, sondern auf Hoffnung und Fortschritt verweist. Das Geschichtszeichen ist ein transzendentales Rechtszeichen.
Erwähnte Literatur:
Arasse, Daniel (1987), Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit.
Arasse, Daniel (1987), Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit.
Berman, Harold J. (1991), Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition.
Guilhaumou, Jacques (1988), Sprache und Politik in der französischen Revolution.: Habermas, Jürgen (1981), Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft.
Habermas, Jürgen (1990), Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII. Habermas, Jürgen (1992), Faktizität und Geltung.
Kriele, Martin (1980), Befreiung und politische Aufklärung. Plädoyer für die Würde des Menschen.
Lyotard, Jean-François (1983), Le différend, dt. als: Der Widerstreit.
Lyotard, Jean-François (1986) L´enthousiasme. La critique kantienne de l´histoire.
Sobota, Katharina (1990), Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen.