Das Recht ist nie präsent, es verweist immer auf etwas anderes und erschließt sich aus Differenzen, selbst wenn es spontan einleuchtet und es keine Alternative zu einer bestimmten Lösung zu geben scheint. Es finden immer Verschiebungen statt, und wenn “Verschiebungen” stattfinden, heißt das: Es müsste vorher einen ursprünglichen, wahren Platz für das Verschobene gegeben haben. Das wird mit dem Begriff des Rechtszeichens behauptet. Es besetzt einen imaginären Platz über – vielleicht aber auch: neben, unter, zwischen – allen juristischen Zeichenketten und bündelt alle einzelnen Signifikanten affektiv.
Für den Philosophen (Simon 1989: 293) sind Rechtszeichen Handlungsbeziehungen, die Affekte hervorrufen, die als “Recht” bezeichnet werden. Erklärt wird damit nur die Ausdrucksweise. Recht ist dann eben das, wozu jemand “Recht” sagt (und nicht “Unrecht”). Dunkel bleibt in diesem Zusammenhang das Wirken eines solchen Rechtszeichens wie auch die Frage, ob es sich um ein Ganzes oder eher um Zeichenketten handelt (Hoffmann 1997 nahelegt). Der französische Philosoph der Postmoderne, Jean-François Lyotard, macht das Unartikulierbare zum Programm: Der Widerstreit, den das praktische Recht nur als “litige” in ein besonderes Satzregime zwinge, sei ein Satz, der nicht artikuliert werden könne und als phônè énarthros dem logos gegenüberstehe (Lyotard 2004: 46f). “Affekt-Satz” nennt Lyotard das Zeichen des Widerstreits. Im Anschluss an Lyotard kann man insofern behaupten: Es gibt ein unverfügbares, nicht artikuliertes und auch gar nicht symbolisch formulierbares Rechtsgefühl, das nicht fachjuristischer Art ist, der fachlichen Jurisprudenz meist skeptisch bis feindlich gegenübersteht, sie aber antreibt, verändert, fundiert und unterminiert. Im Sinne von Peirce hat dieses Zeichen die “Qualität eines totalen Gefühls” (Peirce, Lowell Lecture, 159), es ist (theoretisch) ein Zeichen und hat (praktisch) politische Wirkungen.
Als Gefühl ist das Rechtszeichen ikonisch, es veranlasst – ausgehend von einem Fall (der erlebt wird und sich konkret ereignet) – zum Nachdenken mit Hilfe einer Interpretation, die zu einem Rechtsgedanken führt. Diese abstrakte Formel muss man in unterschiedlichen Bewegungen konkretisieren: von Protest, Zorn und Empörung über die Ungerechtigkeit auf der einen Seite zu Rechtfertigung und Legitimation angenommener Gerechtigkeit auf der anderen. Auf der einen Seite stehen Fall, konkretes Denken und Entschiedenheit, auf der anderen Verallgemeinerung, Abstraktion und abwägende Vorläufigkeit. Das kann hier nur im Umriss verdeutlicht werden. Die negative und in diesem Sinne auch dekonstruktive Bewegung enthält eine “Aufkündigung” (Derrida: suspension), der Protest ist die Absage an Zustände, unter denen jemand leidet. Die Anklage einer Ungerechtigkeit befragt eine Tatsache gegen ihren manifesten Sinn und benutzt dafür plakative Wortformeln. Der Gerechtigkeit nähert man sich von ihrer anderen Seite, von der des Ausgeschlossenen, indem man “konkrete Ungerechtigkeiten denunziert, solche Ungerechtigkeiten, die dort geschehen und deren Wirkungen besonders sinnfällig sind, wo das gute und ruhige Gewissen dogmatisch bei dieser oder jener überkommenen Bestimmung der Gerechtigkeit stehenbleibt” (Derrida 1991: 41).
Die andere Bewegung der Verallgemeinerung, Abstraktion und abwägenden Vorläufigkeit bleibt der gepflegten Semantik vorbehalten, mit der ein Dritter aufgefordert ist, jene Freiheit zu formulieren, die modern Respekt (Autorität) wie Toleranz einschließt; abstrakt: Das Rechtszeichen bezeichnet für jemanden gegenüber jemand anderem jene freie Handlung, die als einzige die Handlungen aller anderen als ebenfalls frei respektiert und deshalb zu tolerieren ist. So lautet jedenfalls die Formation des Rechtszeichens, seit Immanuel Kant die Frage “Was ist Recht?” gestellt hat (Kant 1797, A 31) und Juristen die Regeln des Rechts auf eine kantische Grundposition beziehen (Alexy 1995, 127). Mit dem Anspruch prinzipiell umfassender Gerechtigkeit verlässt das Rechtszeichen die Rechtswissenschaft, denn es bezeichnet, welches allgemeine oder individuelle Begehren überhaupt den Titel “Recht” in Anspruch nehmen kann. Das kann rechtswissenschaftlich nicht mehr bezeichnet werden.
Zitierte Literatur:
Alexy, Robert (1995): Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M.
Hoffmann, Thomas Sören (1997): Jurisfiktion. In: Simon, J. (Hrg.):, Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt 1997, S. 80 – 106
Kant, Immanuel (1797): Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg. In: W. Weischedel (ed.), Werkausgabe. Darmstadt Bd. IV: S. 307-499
Lyotard, Jean-François (2004): Der Affekt-Satz. In: ders., Das Elend in der Philosophie Paris 2000, hier zitiert nach der dt. Übersetzung, Wien 2004, S. 41-49
Peirce, Charles Sanders: Lowell-Lecture von 1903. Teil 2 des 3. Entwurfs der Dritten Vorlesung (MS 465, 1903). In: ders.: Semiotische Schriften Bd. 2, hrg. v. C. J. Kloesel und H. Pape, Frankfurt 2000, 146 ff.
Simon, Josef (1989): Philosophie des Zeichens. Berlin, New York