System

Die grundlegende Operation der Systembildung ist Bezeichnung oder Signifikation. Diese Zeichenhandlung stiftet das Zeichen als Einheit von Bezeichnendem und aktuell oder virtuell Bezeichneten. Das Bezeichnete oder Signifikat wird als “Quasi-Objekt” ausdifferenziert und erhält seine weitere Bedeutung durch Anschlussoperationen. Es kann deshalb gar kein für sich allein stehendes Zeichen geben; dieses bildet sich immer erst durch die Differenz von und mit anderen Bezeichnungsmöglichkeiten und -wirklichkeiten aus. Wenn Bezeichnungen mehrfach vorgenommen worden sind, bildet sich auch eine Struktur aus, die man von der Umwelt unterscheiden kann.
Da nur die Bezeichnungsoperation deutlich, das Bezeichnete aber (jeweils noch) dunkel ist, richtet sich die Aufmerksamkeit des semiotischen Beobachters auf die Anschlussoperationen der Systemteilnehmer. Das System operiert in ständigem Selbstkontakt. Rechtliche Operationen nehmen rekursiv Bezug auf andere rechtliche Operationen. Sie bezeichnen sich selbst und bleiben tautologisch. Es gibt keinen Anfang des Rechts, sondern am Anfang stehen immer Situationen, in denen es plausibel gewesen ist, davon auszugehen, dass auch früher schon nach den in Zukunft für gültig erachteten Rechtsnormen gehandelt worden sei. Insbesondere Niklas Luhmann präsentiert Selbstreferentialität als Ergebnis historischer Forschungen zur Semantik zentraler Rechtsbegriffe wie Eigentum (Am Anfang war kein Unrecht, 11-64). Die Dispositionsbefugnis über das Eigentum habe man zunächst nicht etwa als Bruch mit den Rechtsbefugnissen anderer, sondern als damit verträgliche Differenzkategorie verstanden.
Da Recht sich in der Systemstruktur selbst bezeichnet, muss es auch seine Probleme (das Material für die Folgeoperationen) selbstbezüglich entwerfen. Luhmann mobilisiert dafür die Differenz von “Recht” und “Unrecht”. Das Rechtssystem ist die einzige Instanz in einer Gesellschaft, die sagen kann: “Dies ist Recht und dies ist Unrecht” (Luhmann, Recht: 69). Luhmann entwickelt aus diesen Sätzen die gesamte Selbstbezüglichkeit des Rechtssystems (165 – 173). Es kann noch einmal – empirisch oder emphatisch – bestätigt werden: Recht ist Recht. Es kann durch Einfügung einer Negation in eine Paradoxie verwandelt werden, die innerhalb des Systems als Problem behandelt werden müsste: Recht ist (durch die Art seiner Ausübung) Unrecht; also folgt daraus: …. Die Garantie, daß solche Probleme nur und ausschließlich innerhalb des Rechtssystems behandelt werden können, wird den Beteiligten durch den rückbezüglichen Satz: Recht ist nicht Unrecht – vermittelt. Falls also sachlich der Eindruck entstanden sein sollte, dass Recht Unrecht wäre, wird ein solcher Eindruck sozial und zeitlich – durch Verfahren – beseitigt. Die Gewähr dafür bieten die im System ausdifferenzierten Programme: Recht ist Recht und kein Unrecht, wenn die in den Programmsätzen enthaltenen Bedingungen erfüllt sind. Diese “Fakten” sind in Luhmanns Beobachtung aber nichts anderes als die innerhalb rechtlicher Operationen möglichen Bezugnahmen auf “Quasi-Objekte” – Fremdreferenzen, die es erlauben, das (Verfassungs-) Recht der Demokratie, das (Vereins-) Recht des Fußballspielers oder das (Naturschutz-) Recht für Unkraut zu formulieren.
Wer den Rechtscode kennt, kann die Bezeichnungen von Recht und Unrecht im Prinzip schnell vornehmen. Wer Programmwissen hat, braucht sich auch nicht allzuviel Weltwissen anzueignen, um innerhalb des Programms formierte Referenzen auf Dinge zu übersetzen. Es kommt nämlich etwas hinzu, das Luhmann seit der programmatischen Veröffentlichung “Legitimation durch Verfahren” immer wieder betont hat. Das Rechtssystem kann Entscheidungen aufschieben und eine Zeitlang im Ungewissen operieren. Diesen Zeithorizont nutzt es aus, um selbst Ungewissheit zu erzeugen und zu erhalten “mit der Aussicht, später zu einer (jetzt noch nicht entscheidbaren) Entscheidung zu kommen.” Die Zuteilung der Codewerte rechtmäßig/rechtswidrig wird auf diese Weise um einen im Programm nicht formulierten, sondern nur im Verfahren praktizierten dritten Wert ergänzt: der Ungewissheit der Wertzuteilung (Recht, 209). Was an dieser zentralen Stelle des Rechtssystems geschieht, bezeichnet Luhmann – mit Blick auf die Beiträge der Juristen selbst – als Rätsel (Recht, 307). Was – lautet die Rätselfrage – wird mit der Entscheidung eigentlich entschieden? Nimmt man das Programm ernst, steht nämlich schon fest, in welcher Kläger- oder Beklagtenrolle, auf welcher Anklage- oder Angeklagtenstelle sich Recht befindet und wer dementsprechend im Unrecht ist. Die Codewerte rechtmäßig/rechtswidrig können dann nicht mehr durch Entscheidung zugeteilt werden; und doch werden sie es, und dennoch wissen die Parteien vor dem Urteilsspruch nicht oder nicht genau, wer Recht hat. “Autorität, Dekoration, Begrenzung des Zugangs zum Geheimnis, Texte, auf die man sich beziehen kann, Auftritt und Abtritt des Gerichts – all das tritt an den Platz, an dem verhindert werden muß, daß das Paradox der Entscheidung als Paradox erscheint und damit verrät, daß die Voraussetzung, es könne mit Recht über Recht und Unrecht entschieden werden, ebenfalls eine Paradoxie ist, und daß die Einheit des Systems überhaupt nur als Paradox betrachtet werden kann” (309 f.). Die Aufgabe des Rechtsystems besteht dann darin, diese fundamentale Paradoxie zu verhüllen, zu verschieben und zu zergliedern, jedenfalls in der Situation der Entscheidung nicht offenbar werden zu lassen. Die Zeichen des Rechts haben kein extern zu Bezeichnendes, sie finden keinen Halt am Zugeordneten. Statt dessen fungiert der Code in Luhmanns Verständnis als “artifizielle Verdopplung der Realität” (Recht 177, Fn.27). Die Codewerte bezeichnen sich auf beiden Seiten des Codes gegenseitig, so dass nicht mehr ein Ausdruck auf einen Inhalt verweist, sondern zwei Bezeichnungen aufeinander verweisen. Paradox nannten das die Griechen.
Literatur:
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied u.a. 1969.
Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders.: Gesellschaftstruktur und Semantik. Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989
Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1993.
Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt a.M. 1989