Das Rechtszeichen konstituiert das Arbeitsfeld der Rechtswissenschaft, die es durch Auslegung und Entscheidung von Fällen in empirische Zeichenketten zerlegt. Dabei konkurrieren “Rechtswissenschaft” und “Jurisprudenz” (Ballweg 1970). Die Klugheit des Rechts (iurisprudentia) ist römischen Ursprungs und verfolgt praktische Interessen. Kant stellte sie noch über die “bloße Rechtswissenschaft (iurisscientia)” (1797: B 31). Modern möchten Rechtskluge wie Rechtsunerfahrene gleichermaßen als wissenschaftlich gelten, so daß heutige Fakultäten regelmäßig “für Rechtswissenschaft” ausgewiesen werden. Kontinentaleuropäisch heißt heute jede Bemühung um das Gesetz, die nicht direkt Entscheidungen vorbereitet, “Rechtswissenschaft”, auch wenn sie von Entscheidungen mit ausdrücklich praktischem Interesse handelt. Die reine Rechtslehre, wie Kelsen sie konzipiert, ist eine Theorie des empirischen Rechts (Dreier 1981, 224); insgesamt dominiert die Beobachtung des empirischen Rechts das Rechtsleben – freilich nicht unbedingt im Sinne der Rechtssoziologie (Luhmann 1993), in der die Arbeit der Juristen am Fall zum Gegenstand eingeschränkter Fragen mit eigener Terminologie wird. Zur Wissenschaft geadelt wird die von Kant kritisierte Empirie (Naucke 1996: 195). In der Rechtswissenschaft interesssiert die Praxis der Entscheidung und Begründung, während die Referenz des Rechtsbegriffs und damit die Frage: Was ist Recht und darf als solches gelten? wissenschaftlich ungeklärt bleibt. Es wird durch juristische Fiktion (gelegentlich ausdrücklich als “Parallelwertung in der Laiensphäre” oder “objektiver Empfängerhorizont”) unterstellt, dass die Bedeutung, die Juristen dem Recht geben, derjenigen entspricht, die alle damit verbinden. Die von den Juristen selbst so genannte “Rechtswissenschaft” thematisiert das ideale Rechtszeichen nicht mehr, sondern systematisiert, vergleicht und kommentiert empirische Zeichenketten in Begründungen. Deren Zweck wechselt, und ihr Inhalt kann nur aus dem Diskurs verstanden werden. Die Zersplitterung nimmt fortlaufend zu und wird als “Informationsflut” im Recht beschrieben.
Die Rechtsinformationen gliedern sich juristenintern in syntaktisch oder pragmatisch orientierte Zeichenvorkommen, in denen jeweils eine Anzahl bedeutungsvoller Termini den semantischen Schwerpunkt bilden (Sobota 1990). Syntaktisch strukturiert sind die Texte von Verfassungen und Gesetzen, von Verordnungen und Erlassen, Verträgen oder Satzungen. Die Struktur beginnt mit der Numerierung der Paragraphen oder Artikel, sie setzt sich beim Verweissystem unter diesen Paragraphen fort (einige sind wichtiger und kehren häufiger wieder als andere) und endet bei einem System sogenannter “Anspruchsgrundlagen” und “Tatbestände”, die nur noch ausgebildete und in dem speziellen Fachgebiet praktizierende Juristen handhaben können. Die empirischen Zeichen treten wegen ihrer syntaktischen Strukturierung immer im Plural auf – als Zeichenketten (Müller, Christensen und Sokolowski 1997: 32f) – und lassen in dieser Serialität das einheitliche Rechtszeichen oder den Gerechtigkeitsbezug nicht mehr deutlich werden. Es sind Schriftstücke wie Gesetzbücher, Urkunden und Akten und es sind zu Instititionen zusammengefaßte Komplexe wie die die Fakultät, der Justizapparat oder das Archiv.
Erwähnte Literatur:
Dreier, Ralf (1981), Recht – Moral – Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt a.M.
Dreier, Ralf (1981), Recht – Moral – Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt a.M.
Kant, Immanuel (1797), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg. In: W. Weischedel (ed.), Werkausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. IV: 307-499.
Luhmann, Niklas (1993), Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a.M.
Müller, Friedrich, Christensen, Ralph, und Sokolowski, Michael (1997), Rechtstext und Textarbeit. Berlin.
Naucke, Wolfgang (1996), Kants Kritik der empirischen Rechtslehre. Stuttgart.
Sobota, Katharina (1990), Sachlichkeit. Rhetorische Kunst der Juristen, Frankfurt a.M., Bern u.a.