Zweiter Code

Der Code des Rechts (eigener Eintrag hier) bleibt das Geheimnis der Juristen. So könnte man den Befund deuten, dass der Code, d.h. die Zuordnung eines Rechtswerts zu einem tatsächlichen Befund (Sachverhalt), anhand von Texten, insbesondere von Gesetzen nicht zu klären ist. Man versteht das Recht nicht, indem man das Gesetz liest, und die meisten Nichtjuristen versuchen es auch gar nicht. Zwischen Recht und Nicht-Recht liegt der sog. erste Code. Niklas Luhmann deutet den grundlegenden, binären Code des Rechts einfach so, dass Nicht-Recht (ggf. Unrecht) von Recht unterschieden würde. Aber das ist nicht mehr als ein Einstieg, der für die weiteren Operationen im Recht nichts klärt. Denn die Disziplin benutzt viele Unterscheidungen und benennt wenige. Sie kennt offenbar Regeln, die als Wenn/dann-Sätze zu verstehen sind – und das sind nicht die Gesetze. Justiz, Verwaltung, Kanzlei oder Büro folgen gleichzeitig Programmen, d.h. sie installieren Arbeitsabfolgen, die festlegen, wer welchen Arbeitsschritt wann in welcher Reihenfolge erledigt – und diese Programme sind nicht identisch mit der veröffentlichten Verfahrensordnung.

Da Regeln und Programme in ihrem Wirken beobachtet werden können und nicht mit dem Inhalt von Gesetz und Prozessordnung übereinstimmen, hat sich außerhalb der Jurisprudenz und unter offenkundigem Missfallen der meisten Juristen ein semiotischer Verdacht verbreitet. Propagiert haben ihn zuerst Rechtssoziologen. Die Zuordnung eines Tatsachensatzes zu einem Normsatz sei nicht durch die gesetzliche Regel der Zuordnung programmiert, sondern durch eine andere Sorte von Regeln, „mit deren Hilfe der Betrieb tatsächlich läuft“ – „second code“ nannten sie die Kriminalsoziologen (MacNaughton-Smith 1968). Der Verdacht geht dahin, dass es Programme für die Anwendung von Programmen gibt, die dem Gehalt der anzuwendenden Programme schlicht zuwiderlaufen. Mac Naughton-Smith (1968: 203) weist darauf hin, dass jede Gesellschaft auf beide Codes angewiesen sei, wenngleich jeweils aus der Perspektive der einen Codierung die andere jeweils keine Rolle spielt. So verdrängt der zweite Code als Motiv der Herstellung einfach den ersten Code als bloße Darstellung des Gesetzes. Die Entdeckung eines zweiten Codes führte demgemäß zu einem Angriff gegen die Gerichte, die solchen außerrechtlichen Motiven erliegen. Entsprechend griffig und semiotisch einfach waren die Zuordnungsmerkmale. Etwas wird durch etwas anderes bestimmt, wobei das eine Andere legitim, das andere Andere illegitim sei.

Das illegitime Andere ist historisch unterschiedlich bestimmt worden. In der Zeit der Weimarer Republik wurde nach Ernst Julius Gumbel (1922: 149) das Urteilsergebnis durch die Schichtzugehörigkeit von Richter und Angeklagten bestimmt, nach Hannover und Hannover-Drück (1987: 30f) die Sympathie mit Angeklagten durch das politische Bewusstsein der Richter, nach Gräf (1988) im Rechtssystem der ehemaligen DDR das Urteilsergebnis durch die Linientreue, in der Bundesrepublik nach Dorothee Peters (1973: 106ff) die Kriminalitätskonzeption der Strafrichter durch die Schichtzugehörigkeit der Angeklagten, nach Rodingen (1977: 40ff) die Urteilsverständlichkeit durch die „schichteneigenen Sprechweisen und Erlebnisfelder“, nach Mikinovic und Stangl (1978: 153) in Wien der Rechtsmittelerfolg von Angeklagten durch einen schichtenspezifischen Deliktscharakter, nach Levin (1977: 154f) in Pittsburgh und Minneapolis wiederum das Urteilsergebnis durch den regionalen bzw. metropolitanen Standort. Im Rahmen dieser jeweils zweiten Codes spielt das Gesetz keine selbständige Rolle. Politische Meinung und Klassen- oder Schichtenzugehörigkeit erscheinen regelmäßig als allein wirksame Faktoren der Zweitcodierung. Die These von der Klassenjustiz (Rottleuthner 1973: 162ff) hat ihr semiotisches Fundament in der Funktion des zweiten Codes, den ersten Code zwar praktisch zu verdrängen, im Bewusstsein der Rechtsanwender aber als dogmatisch gültig zu bewahren. Semiotisch raffinierter als alle Abwandlungen der Klassenjustiz-These wirken Zweitkodierungen, die in der Kommunikation selbst zu vermuten sind. Das waren und sind in erster Linie die Figuren der juristischen Rhetorik (Grasnick 1988). Sie werden seit Aristoteles und Cicero an Redner vermittelt, die ihr Publikum zur Annahme bestimmter Rechtsbehauptungen drängen wollen. Wirksam wird die juristische Rhetorik auch in der Moderne mit der These, rhetorische Topoi wie „Priorität“, „Gleichbehandlung“ oder „Schikaneverbot“ seien wirksame Zweitkodierungen des Gesetzes (Struck 1971). Zwar lässt sich einwenden, dass rhetorische Figuren notwendigerweise die pragmatische Dimension der Rechtsanwendung ausmachen (Stamatis 1995: 128f), die semantisch-syntaktisch nicht ausreichend verstanden werden kann; als Zweit- und Zwangsbestandteil wirken freilich solche „zwangskommunikativen Interaktionsstrategien” (Schütze 1978: 83), von denen sich behaupten lässt, sie seien für den rechtlich begrenzten Ablauf des Verfahrens nicht notwendig. Nur der Beleg für solche Behauptungen fällt schwer, wenn man weiß, welche Erleichterung „ungebremste Ontologisierung“ (Grasnick 1996: 73) dem Richter bringt.

Zitierte Literatur: 
Gräf, Dieter (1988): Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR. München und Berlin.
Grasnick, Walter (1988): Über Rechtsrhetorik heute. Weshalb man ihrer bedarf und wie man sie betreibt, in: Jahrbuch für Rhetorik 7: 1-12.
Grasnick, Walter (1996): Ontologie versus Rhetorik – et vice versa. Jahrbuch für Rhetorik 15: 66-80.
Gumbel, Emil Julius (1922): Vier Jahre politischer Mord. Neuausgabe Heidelberg 1980.
Hannover, Heinrich, und Hannover-Drück, Elisabeth (1987): Politische Justiz 1918-1933. Bornheim-Merten.
MacNaughton-Smith, P. (1968): The Second Code. Toward (or Away from) an Empiric Theory of Crime and Delinquency, dt. in: K. Lüderssen/ F. Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität. Frankfurt a.M. 1975: 197-212.
Mikinovic, S. und Stangl, W. (1978): Strafprozess und Herrschaft. Eine empirischeUntersuchung zur Korrektur richterlicherEntscheidungen. Neuwied und Darmstadt.
Peters, Dorothee (1973), Richter im Dienste der Macht. Zur gesellschaftlichen Verteilung der Kriminalität. Stuttgart.
Reichertz, Jo (1984) (ed.): Sozialwissenschaftliche Analysen jugendgerichtlicher Interaktion. Tübingen.
Rodingen, Hubert (1977): Pragmatik der juristischen Argumentation. Was Gesetze anrichten und was rechtens ist. Freiburg u.a.
Rottleuthner, Hubert (1973): Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik. Frankfurt a.M.
Schütze, Fritz (1978), ”Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht – eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer, in: W. Hoffmann-Riem/ H. Rottleuthner/ F. Schütze/ A. Zielcke, Andreas (Hrsg.): Interaktion vor Gericht. Baden-Baden: 19-100; Stamatis, Constantin M. (1995): Argumenter en droit. Une théorie critique de l´argumentation juridique. Paris.
Struck, Gerhard (1971): Topische Jurisprudenz. Argument und Gemeinplatz in der juristischen Arbeit. Frankfurt a.M.