Auschwitz

Auschwitz ist der Name für ein „Geheimnis“ des modernen Rechts (Assmann 1997) und wird deshalb weder aus der Geschichtsschreibung noch aus der Theoriebildung verschwinden. Der Name steht für einen Fall (über den es Urteile gegeben hat), er zwingt den Rezipienten, auf die Außenseite von Zeichen zu sehen, weil die Innenseite – „das Ereignis“, für das der Name steht, – unsagbar ist und nur durch andere Namen („Endlösung“, „Holocaust“, „Shoah“) ersetzt werden kann. Insofern ist Auschwitz ein Beispiel für den Widerstreit geworden, d.h. für das Ungenügen der Sprache, eine Bedeutung auszudrücken.

Der Name „Auschwitz“ löst den Widerstreit aus. Er führt an die Grenzen des Rechts. In diesem Sinne hat Jean-François Lyotard die „Auschwitz-Lüge“ des französischen Rechts-Propagandisten Faurisson zitiert (1987, 17f): „Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. Ich habe Fachleute und Historiker unermüdlich mit meinen Fragen verfolgt. Ich habe – allerdings vergeblich – einen einzigen Deportierten gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen zu haben“ So gehen die Konstrukteure der Auschwitz-Lüge mit dem Geheimnis um. Aus den Schwierigkeiten der Darstellbarkeit schließen sie darauf, dass das Ereignis unbewiesen ist, und weil es unbewiesen sei, sich auch gar nicht ereignet habe. Lyotard nimmt die Anforderungen ernst und steigert sie zur geheimnisvollen Paradoxie: „Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen zu haben“ sei die Bedingung für die Autorität, deren Existenz zu behaupten und Ungläubige zu belehren. Zudem müsse man beweisen, dass die Gaskammer in dem Augenblick todbringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht darin, dass man tot ist – und als Toter kann man nicht bezeugen, dass man in einer Gaskammer umgekommen ist. In der Semiotik bleiben dann nur Streit und Widerstreit, unterschiedliche „Sprachregimes“, mit denen man schildern kann, was sich in der Welt ereignet – oder es nicht schildern kann.

Man kann es schildern. Wie das juristisch geht, zeigt der Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963-65 in Frankfurt a.M. Das Landgericht Frankfurt a.M. hat im Jahre 1965 ein Urteil gegen 20 Angeklagte verkündet, die wegen Mordes im Konzentrationslager Auschwitz angeklagt waren. Das schriftliche Urteil dazu ist inzwischen (auch im Internet) veröffentlicht, und es lohnt sich, das Auschwitz-Urteil allein deshalb zu lesen, um zu erfahren, wie man mit kleinen Mitteln einem großen Geheimnis einige Einzelheiten entreißt. Zum Beispiel hieß die Strafsache beim Landgericht „gegen Mulka u.a.“ und doch wollte der Hauptangeklagte Mulka vom Ereignis nichts wissen. Robert Mulka war stellvertretender Lagerkommandant und Stellvertreter von Rudolf Höß (dessen Aufzeichnungen seit 1946 vorliegen). Aber der Stellvertreter ließ sich im Strafprozess dahin ein, dass er keine „Entscheidungsfreiheit” und keine „Tatherrschaft” gehabt habe. Die Ärzte hätten die Häftlinge in die Gaskammern geschickt. Auch andere SS-Führer hätten das getan. Er aber habe als kleiner SS-Unterführer hierzu keine Befugnis gehabt. Das Urteil verschiebt die Perspektive und stellt aufgrund von Zeugenaussagen eine fast beiläufige kleine Einzelheit fest. Man liest: „Der Angeklagte Mulka hat als Adjutant des Lagerkommandanten Höß an mindestens drei verschiedenen Tagen nach Ankündigung je eines RSHA-Transportes persönlich die verschiedenen Abteilungen des Lagers von der Ankunft der Transporte telefonisch benachrichtigt und die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben. Er war auch selbst in einer unbestimmten Anzahl von Fällen bei der Abwicklung von RSHA- Transporten auf der Rampe. In mindestens einem Fall war er bei einer solchen Aktion der ranghöchste Offizier auf der Rampe. In diesem Fall hat er die Oberaufsicht geführt. Dabei ereignete sich folgendes: 2 SS- Unterführer brachten einen Häftling des Häftlingskommandos zu dem Angeklagten Mulka. Sie meldeten ihm, der Häftling – die SS-Männer sagten »das Schwein« – habe mit den Zugängen gesprochen. Mulka gab daraufhin den Befehl, wobei er auf seine Uhr schaute: »Macht ihn fertig, es ist spät!« Die beiden SS-Unterführer schlugen daraufhin auf den Häftling mit Knüppeln ein, bis er tot war. Die Leiche wurde dann weggebracht.“ Es bleibt nach dem Bericht dieses Vorfalls dahingestellt (ein wiederkehrendes Praxiswort, um Großzusammenhänge nicht klären zu müssen), ob der Angeklagte bei der Anwesenheit auf der Rampe als ranghöchster SS-Führer oder bei anderen Gelegenheiten auch selbst arbeitsfähige Juden ausgesondert habe, denn der Vorwurf geht in eine etwas andere Richtung: Mulka habe durch seine Anwesenheit die anderen SS-Führer, Unterführer und SS-Männer darin bestärkt, den Rampendienst gemäß den ihnen gegebenen Befehlen strikt durchzuführen. Verurteilt wird er also für eine gewissermaßen psychische Beihilfe.

Große Zusammenhänge auf kleine Vorfälle zu reduzieren, scheint dem historischen Charakter eines Ereignisses nicht gerecht zu werden. Hinter lauter kleinen Bäumen scheint der Wald zum Geheimnis zu werden. Teilweise ist das unvermeidlich. Zitiert sei deshalb eine zweite Technik, wie man das Unsagbare doch aussagen kann. Ein anderer Angeklagter (Dylewski) war geständig, wiederholt Rampendienst versehen zu haben und dabei mit anderen SS-Angehörigen in einer Postenkette Absperr- und Sicherungsaufgaben erfüllt zu haben. Er hatte auch zugegeben, die Eisenbahnwagen nach zurückgebliebenen Personen durchsucht und solche Personen auf die Rampe hinausgeschickt zu haben, und schließlich eingeräumt, die für den Tod bestimmten jüdischen Menschen mit anderen SS-Angehörigen zum Lager Birkenau begleitet zu haben. Man wusste aber nicht genau, wie oft und wann das geschah. Möglicherweise wusste der Angeklagte das selbst nicht mehr. Im Urteil liest man deshalb eine schulmäßige Bedeutungsermittlung über das Wort „Wiederholung“: „Da es unmöglich war festzustellen, wie oft der Angeklagte Dylewski »Rampendienst« gemacht hat, er selbst auch keine Zahl mehr angeben konnte, hat sich das Gericht, da es sich nicht auf unsichere Schätzungen einlassen durfte, darauf beschränkt, eine Mindestzahl festzustellen. Dylewski hat nach seiner eigenen Einlassung „wiederholt“ Rampendienst gemacht. Es konnte daher mit jeden Zweifel ausschließender Sicherheit festgestellt werden, dass er mindestens zweimal bei der Vernichtung von RSHA-Transporten mitgewirkt hat. Nach seiner eigenen Einlassung hat der Angeklagte Dylewski auch gewusst, dass die jüdischen Menschen unter strengster Geheimhaltung und nur deswegen getötet werden sollten und getötet wurden, weil sie Juden waren.“ „Wiederholt“ heißt beweisrechtlich: mindestens zweimal. Solche Reduktionen empfinden Beobachter eines Strafverfahrens als merkwürdige Karikatur der Wirklichkeit. Nur Urteilslesen und Hauptverhandlungshören belehrt darüber, dass es sich um juristische Kunst handelt.

Die Art der juristischen Satzverkettung wird in einem Fall wie Auschwitz zu einer Herausforderung. Juristisch riskant ist die Konstitution des Sachverhalts wegen der massenhaft wiederholten Ereignisse, die in einem Forschungsprojekt von Herbert Jäger (1989) als „Makrokriminalität” zusammengefasst werden. Der Fall kennt hingegen grundsätzlich Kleingeschichten, in denen Subjekte an identifizierbaren Opfern Taten verüben. Im Bereich der Makrokriminalität kennt man zwar den Typ der Tat, weiß aber deshalb noch nichts über die einzelnen Täter, ihre Opfer und die konkrete Ausführung. Das gibt jeder für Zwecke der Verteidigung verfertigten Rechtsnegation Chancen (Vergès 1988). Jäger hat im deutschen Rechtsbereich die NS-Gewaltkriminalität bis hin zum aktuellen Terrorismus als Fallphänomen beschrieben. Ähnlich spät hat in Frankreich die justizielle Ahndung von Verbrechen begonnen (am Beispiel Oradour: Lercher 1994) und hat erst in den exemplarischen Prozessen gegen Klaus Barbie (Vergès 1988) und Maurice Papon (Chalandon und Nivelle 1998) Symbolfunktion gewonnen. Die Gewaltbereitschaft scheinbar normaler Bürger hat gerade am Beispiel der NS-Täter die Wahrnehmung von Fällen verändert. Hannah Arendt (1963) beobachtete in Jerusalem den Strafprozess gegen den deutschen Eisenbahntransportmeister der „Endlösung“, Adolf Eichmann, und fand anstelle eines von vielen erwarteten Verbrechermenschen die in Sondercodierungen befangene „Banalität des Bösen” (die etwa anstelle von „Befohlene Banden ermorden Juden” setzt: „Einsatzgruppen machen Gebiete judenrein”; Arendt 1963, 95). Die juristische Transformation des Holocausts hat nicht nur den Inhalt des Rechtsdiskurses, sondern auch die Form der Fallkonstruktion verändert. Die massenhafte Wiederholung zur Gewohnheit gewordener Vorgänge wurde Tätern zur Last gelegt, die sich gewohnheitsmäßig der Rechtsordnung völlig zugehörig fühlten.

Das führt zurück zum anfänglichen Widerstreit. Wie drückt sich ein Verbrechen in der Darstellung von Verbrechern aus, die das Verbrechen nicht darstellen und sich selbst davon distanzieren? Es ist kein Zufall, dass spät – nämlich erst in den letzten 10 Jahren –, dann aber mit verstärkter Aufmerksamkeit Videomitschnitte (Brauman und Sivan 1999), Protokollausschnitte (Langbein 1995) und Prozessbeobachtungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Chalandon und Nivelle 1998) dokumentiert worden sind. Diese Dokumentation der Zeichenoberfläche ist diktiert von dem Bewusstsein, dass „dahinter“ Unsagbares vor sich geht und vor sich gegangen ist. Was bedeutet es, wenn Klaus Barbie im Strafprozess in Lyon auf die Frage, was er zu der von Zeugen berichteten Drohung sage, sie verschwänden an einem Ort, von dem niemand wiederkehrt: „Nichts, Herr Präsident“ (Chalandon und Nivelle 1998: 69)? Jede Antwort darauf nimmt teil an der Semiotik des Rechtsdiskurses.

Erwähnte Literatur:

Arendt, Hannah (1963): Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. New York.
Assmann, Aleida (1997): „Auschwitz – das Geheimnis der Geheimnisse“, in: Assmann, A. und Assmann, J (Hrg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München: 17-22.
Brauman, Rony, und Sivan, Eyal, (1999): Eloge de la désobéissance. A propos d´»un spécialiste«: Adolf Eichmann, Paris.
Chalandon , Sorj, und Nivelle, Pascale (1998): Crimes contre l´humanité, Paris
Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965), hrg. v. Baltzer, F.-M./ Renz, W., Bonn 2004.
Höß, Rudolf (1963): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hrg. v. M. Broszat, München.
Jäger, Herbert (1989): Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt a.M.
Lercher, Alain (1994): Les fantômes d´Oradour. Lagrasse.
Lyotard, Jean-François (1987): Der Widerstreit, München (frz.: Le différend 1983).
Vergès, Jacques (1991): Je défends Barbie. Paris.