Derrida

Jacques Derrida (1930-2004) wurde in Algerien geboren, war von Hause aus Jude, praktizierte die Religion aber nicht; gleichzeitig war er algerischer Franzose, die französische Staatsbürgerschaft wurde aber von Vichy-Frankreich 1942 aberkannt. Auf diesen doppelten Ausschluss kommt Derrida mehrfach zurück. Seine Bedeutung für die allgemeine Zeichentheorie wird im Jahre 1967 durch drei Programmschriften begründet, nämlich die Husserl-Lektüre „Die Stimme und das Phänomen“, die den Primat der Lautlichkeit in der Sprache bestreitet, das Hauptwerk „Grammatologie“, das den Vorrang der Schrift in der Sprache begründet, und schließlich eine Aufsatzsammlung unter dem Titel „Die Schrift und die Differenz“, mit der Derrida die herrschende strukturale Sprachbetrachtung auf Prozesse umstellt, die „im Kommen sind“.

Derrida gilt als Schöpfer und Praktiker der Dekonstruktion und hat diesen Ausdruck auch selbst benutzt. Demgegenüber hat er den Begriff des Zeichens und den Zusammenhang einer Zeichentheorie regelmäßig abgewehrt. Das Zeichen erschien ihm noch zu sehr von ontologischen, voraussetzungsreichen Präsenzvorstellungen beherrscht zu sein.

Rechtsphilosophie im eigentlichen Sinne (in dem Sinne nämlich, dass „Recht“ als Name im Text vorkommt) wird erst spät zum Thema des Jacques Derrida, obwohl er selbst darauf bestanden hat (so in: Force of law, dt.: S. 16), dass Gerechtigkeit ein fortlaufender Grundton in mehreren seiner wesentlichen Werke gewesen sei. Die Nietzsche-Lektüre bietet für Derrida im Jahre 1976 den Einstieg in eine grundlegende Rechtsfrage, die Juristen nur scheinbar beantwortet haben: Wer ist Autor einer Verfassung? Dass es „das Volk“ sei, halten heute fast alle für eine dekonstruierbare Aussage. Derrida bewegt sich demgegenüber „vor dem Gesetz“, liest auf einem Kolloquium mit seinem Freund und Weggefährten Jean-François Lyotard in Cerisy-la-Salle im Jahre 1982 die gleichnamige Kafka-Parabel über den Türhüter „Vor dem Gesetz“ und übersetzt die Position des „Mannes vom Lande“ als vorbeurteilt, vorverurteilt, vorurteilsverhaftet, fast unübersetzbar aus dem französischen Titel „Préjugés“. Es folgen weitere Beiträge (Privilège, Popularitäten) über den Zusammenhang von Recht und Philosophie, mit denen Derrida die Kantische Rechtslehre aufnimmt, es folgen lange Ausführungen über Nietzsches Politik der Feindschaft (insbesondere im 2. und 3. Kapitel, in: Politik der Freundschaft) und es folgt vor allem der für die Rechtstheorie programmatisch gewordene Vortrag über „Force of Law“ (1991) vor der amerikanischen Critical Legal Society im Jahre 1989.

Markenzeichen für Derrida-Dekonstruktionen sind lange Textlektüren, die das Augenmerk auf sprachliche Feinheiten richten, Worte, Wortklänge, Assoziationen, die der schlichte Leser nicht entdecken wird. Zerstört oder in seine Bestandteile zerlegt wird der gewöhnliche, eingeführte und eingefahrene Sinn eines Worts, eines Textes oder Bildes (insgesamt also: eines Zeichens). So liest Derrida griech. „auto-“ (d.h. selbst) in französischer Aussprache als „oto“ und interpretiert es mit der lateinischen Vokabel „os“ (d.h. Ohr). Das erscheint unsinnig. Die dekonstruktive Pointe versteht man erst, wenn man sich darauf einlässt, das Selbstverhältnis vom Gängelband des Hörens her zu verstehen. Deshalb gibt es keine „Methode“ der Dekonstruktion; sie braucht Einfälle, Aufkündigungen des Sinns und neue Einsichten. Sie ist Operation, nicht Ergebnis.

Zitierte Literatur von Jacques Derrida:

(1973): Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.  (Orig. 1967)
Grammatologie, Frankfurt a.M. 1973 (Orig. 1967); Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.(Orig. 1967)
«Préjugés», in: ders. u.a., La Faculté de Juger, Paris 1985: 87-140 (dt. Wien 1992);
(1986): Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Wien
Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, (Orig.: Force of Law, 1990), dt.: Frankfurt a.M. 1991
Privilège, in: ders., Du droit à la philosophie, Paris 1990; Popularitäten“ in: ders., Mochlos oder das Auge der Universität. Vom Recht auf Philosophie II, Wien 2004.
Zus. mit Friedrich Kittler : Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, (Orig. 1984), dt.: Berlin 2000.