Luhmann

Vielleicht ist es nötig, vorweg zu betonen: Niklas Luhmann (1928-1998) war kein Semiotiker! Jedenfalls wollte er es nicht sein. Dennoch ist die Verbindung zwischen Systemtheorie und Semiotik enger, als Luhmann selbst sie sehen wollte. Deutlich formuliert sie Luhmann in einem Beitrag über das Zeichen als Form, der der Semiotik und ihrer vermeintlichen Überwindung gewidmet ist (1993b). Luhmann, der für seine Methode George Spencer-Brown zitiert, argumentiert im Sinne einer dualistischen Semiotik (wie sie Saussure und Morris praktiziert haben), insofern er mit Zweiteilungen einsetzt und die Unterscheidung von Zeichen und Umwelt oder Nicht-Zeichen als Basisoperation ansieht. Jede Unterscheidung – so heißt der erste Satz – produziere eine Zweiheit, und das nennt Luhmann eine “Form” (1993 b: 49f.). Die Form hat infolgedessen zwei Seiten, eine Innen- und eine Außenseite, und sie trennt den Bereich, den man geformt sehen möchte, von der Umgebung. Bei Luhmann heißt das Geformte „System“, das Drumherum „Umwelt“. Allerdings leuchtet es nicht ohne Weiteres ein, weshalb Unterscheiden eine Basisoperation sei und wann man wie viel wovon unterscheide. Ebenso ungreifbar bleibt die korrespondierende Operation der Beobachtung. Luhmann möchte vermeiden, dass man Beobachtungen mit den alltäglichen Vorgängen des Zusehens, des Dabeiseins-aber-nicht-Eingreifens identifiziert. Unterscheidung wie Beobachtung gewinnen auf diese Weise eine quasi-metaphysische Rolle.

Den gleichen Formbefund und vergleichbare methodische Ausgangspunkte gewinnt man mit Zeichenhandlungen und mit dem Zeichen als Form. Man beobachte Luhmann mit der These, dass er den semiotisch-pragmatischen Formbegriff benutzt und ihn durch Umbenennung vermeidet. Die grundlegenden Unterscheidungen sind im Rahmen einer handlungsorientierten Semiotik Zeigehandlungen wie Hinweisen, Vorweisen oder Bezugnehmen, es sind auch Prädikationen wie Verbeugen und Sprechhandlungen wie Versprechen, in denen Tun und Bezeichnung zusammenfallen. Mit Luhmann empfiehlt es sich dann aber, den alltäglichen Handlungsbegriff noch zu differenzieren. Die grundlegende Operation sei – so Luhmann (1995: 73) –: Jemand nimmt etwas wahr, beobachtet etwas und macht es zum Inhalt einer Mitteilung. Während eine Handlung gewöhnlich als willensgetragen und zielgerichtet verstanden wird, zerlegt Luhmann diese von ihm “alteuropäisch” genannten Annahmen in mehrere „Bifurkationen“, deren erste die Ausgrenzung der Form selbst ist. Das ist der Moment der ersten Unterscheidung. Etwas wird wichtig, etwas, das keine Dingqualität haben muss, sondern als Objekt erst konstituiert werden wird. Dieses Etwas kann der Schriftsatz eines Beschwerdeführers, der König, ein Fußball oder das Unkraut im Schlosspark (1995: 79 und 1993a: 26 f) sein. Diese Dinge werden als „Quasi-Objekte“ ausdifferenziert und erhalten ihre weitere Bedeutung wiederum durch Operationen des Beobachters mit den zuvor ausgegrenzten Objekten. Indem diese bezeichnet werden, sieht man von der Umwelt ab. Man unterscheidet durch Bezeichnung.

Nun will sich Luhmann allerdings von dem in seiner Sicht traditionellen Rest der Semiotik distanzieren und hebt immer wieder hervor, das Bezeichnende verweise eben nicht auf ein Bezeichnetes, das beobachtete Etwas sei kein Zeichen. Die Zeichentheorie sieht er nämlich als belastet durch den Verweis auf Signifikate. Formen böten sich dagegen für die operative Benutzung durch einen Beobachter an, der beispielsweise Schriftsätze aneinander anschließen, die Flugbahn von Fußbällen verfolgen und die Bewegung von Königen im Raum so beobachten könne, wie er das Jäten des Unkrauts beobachte. In einer früheren Ausdrucksweise heißt das, der Adressat einer Kommunikation könne eine Selektion zur Prämisse eigenen Anschlusshandelns machen oder die Selektion ablehnen. Zugänglich sind aber immer nur die durch Beobachtung ausgewählten Formen, wobei nicht entscheidend ist, womit angefangen wird; und zugänglich sind auch nur die Anschlusskommunikationen, mit denen Ereignisse fortgesetzt werden. Dabei bleibt ein prinzipiell nicht überbrückbarer Bruch zur Ausgangsoperation und der ihr zugrunde liegenden Wahrnehmung bestehen. Es gibt keinen Zugang zur Innenseite des Senders. Die Asymmetrie zwischen dem Bezeichnenden und dem möglicherweise Bezeichneten ist – so Luhmanns These (1995: 73) – nicht aufhebbar. So ist nach im Anspruch gleicher Beschreibungsmethode neben der Wirtschaft (1991), der Politik (2000 a), der Kunst (1995) oder der Religion (2000 b) der Gesellschaft auch das Recht der Gesellschaft (1993) entstanden. Im Recht unterscheidet Luhmann zwei Sorten von Beobachtern: Juristen, die von innen her beobachten, und Soziologen, die das von außen tun (1993a: 16 f). Jeder von beiden operiert anders und kann – trivial genug – nicht sehen, was er nicht sehen kann (weil er nämlich an der Beobachtungsstelle gerade operiert). Da das Bezeichnete dunkel ist und auch durch Beobachtung nicht erhellt werden kann, richtet sich die Aufmerksamkeit des soziologischen Beobachters auf die Anschlussoperationen der juristischen Systemteilnehmer. Das System operiert in ständigem Selbstkontakt – sagt Luhmann vom Rechtssystem (1993a: 75) wie vom Kunstsystem (1995: 316). Rechtliche Operationen nehmen rekursiv Bezug auf rechtlicheOperationen. Sie bezeichnen sich selbst und bleiben tautologisch. Das wagt nur der soziologische Beobachter so zu schreiben, aber aus seiner Beobachtungsposition heraus nimmt er auch wahr, dass diese Art der anfänglichen wie letztendlichen Selbstbezüglichkeit eben das Operationsprinzip für die Rechtsordnung sei, die darüber nicht sprechen müsse. Sie orientiert sich an sich selbst.

Dementsprechend vertieft Luhmann an verschiedenen Stellen die These, dass ein „Anfang“ des Rechts grundsätzlich ausgeschlossen sei und an dessen Stelle Situationen treten, in denen es plausibel gewesen sei, davon auszugehen, dass auch früher schon nach den in Zukunft für gültig erachteten Rechtsnormen gehandelt worden sei (1989: 50f und 1993a: 57). Luhmann präsentiert Selbstreferentialität als Ergebnis historischer Forschungen zur Semantik eines zentralen Rechtsbegriffs wie „Eigentum“. Die Dispositionsbefugnis über das Eigentum habe man zunächst nicht etwa als Bruch mit den Rechtsbefugnissen anderer, sondern als damit verträgliche Differenzkategorie verstanden. Da Recht sich in dieser Sichtweise selbst bezeichnet, muß es auch seine Probleme, das Material für die Folgeoperationen, selbstbezüglich entwerfen. Luhmann mobilisiert dafür die Differenz von Recht und Unrecht. Das Rechtssystem ist demnach die einzige Instanz in einer Gesellschaft, die sagen kann: „Dies ist Recht und dies ist Unrecht“ (1993a: 69). Luhmann entwickelt aus diesen beiden Sätzen die gesamte Selbstbezüglichkeit des Rechtssystems (1993a: 165-173). Zunächst kann der Satz noch einmal (empirisch oder emphatisch) bestätigt werden: Recht ist Recht. Es kann aber auch durch Einfügung einer Negation in einen semantischen Widerspruch verwandelt werden, der innerhalb des Systems als Problem behandelt werden muss: Nicht-Recht ist Recht – oder: Recht ist nicht Recht. Damit kann das System differenziert werden.

Die Garantie, daß solche Probleme nur und ausschließlich innerhalb des Rechtssystems behandelt werden können, wird den Beteiligten durch den rückbezüglichen Satz „Recht ist nicht Unrecht“ vermittelt. Falls also sachlich der Eindruck entstehen sollte, dass Recht Unrecht wäre, wird ein solcher Eindruck sozial und zeitlich – durch Verfahren – beseitigt. Die Gewähr dafür bieten die im System ausdifferenzierten Programme: Recht ist Recht und kein Unrecht, wenn die in den Programmsätzen enthaltenen Bedingungen erfüllt sind. Diese „Fakten“ sind in Luhmanns Beobachtung aber nichts anderes als die innerhalb rechtlicher Operationen möglichen Bezugnahmen auf „Quasi-Objekte“, also Fremdreferenzen, die es erlauben, das (Verfassungs-) Recht des Königtums, das (Vereins-) Recht des Fußballspielers oder das (Naturschutz-) Recht für Unkraut zu formulieren. Im Rahmen des Rechtscodes ist damit die Zuordnung der Bezeichnung von Recht und Unrecht problemlos und im Prinzip schnell möglich. Wer sich auskennt und Programmwissen hat, braucht sich nicht allzu viel Weltwissen anzueignen, um innerhalb des Programms formierte Referenzen auf Dinge zu übersetzen.

Zitierte Literatur von Niklas Luhmann:

(1993a): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a.M.;
(1993b): „Zeichen als Form“ in: D. Baecker (Hrsg.), Probleme der Form, Frankfurt a.M.: 45-69;
(2000): „Die Paradoxie des Entscheidens“. Ursprünglich Verwaltungs-Archiv 84, wieder verwendet in: Organisation und Entscheidung, Frankfurt a.M.: 123 ff.;
(1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.
(1991): Wirtschaft der Gesellschaft;
(2000 a): Politik der Gesellschaft;
(2000 b): Religion der Gesellschaft.