Nietzsche

Die Frage “Was ist Recht?” beantwortet Nietzsche negativ und enthüllend. Recht ist nicht das, was als solches bezeichnet wird. Das einheitliche Rechtszeichen wird aufgelöst. Mittel dazu ist eine radikale Sprachkritik, die das Zeichen zu Geschichte und Erinnerung einerseits oder Werden und Zukunft andererseits macht, weil das aktuelle, erfahrbare Recht von Grund auf ungenügend ist. Dort regieren die Kurzschlüsse. Sie sind so kurz, dass Nietzsche sie in die Form des Aphorismus fassen kann, etwa:
  • Schuld. – Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld. (Fröhliche Wiss. 1882, 515 – Nr. 250)
  • Einmaleins. – Einer hat immer Unrecht; aber mit zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen; aber zweie kann man bereits nicht widerlegen. (Fröhliche Wiss. 1882, 516 – Nr. 260)
  • Der Verbrecher ist häufig genug seiner Tat nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie (Genealogie 1887, Nr. 109).
Negiert wird die Schuld, gelobt wird die Zwietracht des Einmaleins und heroisiert wird der “Unwert” eines Verbrechens, das Nietzsche eher in napoleonischen Kategorien denkt als in schäbigem Alltagstun. In diese kurzen Schlüsse ist viel Bedeutung gelegt, aber die Ironie des Schlusses lässt gleichzeitig jedem Leser genügend Spielraum zur eigenen Zeichenkonstitution. Das macht den aphoristischen Stilisten (Gauger 1995, 229-246) gleichzeitig zum skeptischen Semiotiker, der den rechtstheoretischen Fortschritt seiner Zeit (mit der Betonung des Zwecks im Recht) so karikiert (Genealogie 1887, II/12, 313f):

Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinanderfallen oder -fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in eins. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben -: sie machen irgendeinen »Zweck« in der Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der »Zweck im Rechte« ist aber zuallerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden: vielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen sein sollte – daß nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegnen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; daß alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-werden und daß wiederum alles Überwältigen und Herr-werden ein Neu-Interpretieren, ein zurechtmachen ist, bei dem der bisherige »Sinn« und »Zweck« notwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muß. Wenn man die Nützlichkeit von irgendwelchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Kultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag – denn von alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, daß ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines »Dings«, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloß zufällig hintereinander folgen und ablösen.

Das Zitat enthält in der Nussschale alle wesentlichen Elemente der Rechts- und Zeichenkritik, wie sie Nietzsche vorträgt. Der Kurzschluss vom vorgestellten auf den für “wirklich” gehaltenen Zweck erklärt Nietzsche als Beispiel einer Naivität im Dienste der Recht-fertigung. Die Fertigung des Rechts wird hier erstmals in der Geschichte des Rechtszeichens als Zeichenkette präsentiert, die mit einem möglichen Ziel oder Zweck rein gar nichts mehr zu tun hat, sondern nur noch den eigenen Zweck des rhetorischen Gebrauchs erkennen lässt. Die positive Seite des Rechts – die eigentliche, wirkliche, aktuelle Bedeutung, den Begriff “für eine ganze Fülle von Zeichen” (Simon 1989, 131) – erklärt Nietzsche im gleichen Zusammenhang für nicht definierbar (Genealogie 1887, II/13):

Was nun jenes andre Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren »Sinn«, so stellt in einem sehr späten Zustande der Kultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff »Strafe« in der Tat gar nicht mehr einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von »Sinnen«: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, kristallisiert sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysieren und, was man hervorheben muß, ganz und gar undefinierbar ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.)

Die Definitionsverweigerung macht die Modernität Nietzsches aus und wird zum Ansatzpunkt für die Dekonstruktion des Rechts, wie sie Derrida (1986) vorführt. Er setzt dabei an der Präsentation Nietzsches als Person ein (Vorrede zu Ecce Homo) und zerlegt den konstitutiven Sprechakt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in ihre Zeichen-Bestandteile, die Derrida eigenwillig von der “Autonomie” über die Autobiographie zur (französisch und phonetisch ausgesprochenen) “otobiograhie” führt. Als Zeichen auf diesem Weg wirkt dabei ein rätselhaftes “Omphalos” – eine Nabelschnur (cet ombilic), die das hörende Ohr und den sprechenden Mund in einer jeden Institution (Derrida erinnert dabei an Nietzsches Vortrag über die “Zukunft unserer Bildungsanstalten”) durch die Rede zusammenhält (“Leihen Sie mir ihr Ohr”):

“Träumen Sie diesen Nabel, er hält Sie am Ohr, an einem Ohr aber, das Ihnen diktiert, was sie gerade gegenwärtig schreiben, wenn Sie das in der Weise tun, die da »Mitschreiben« heißt. Wirklich diktiert die Mutter, die böse oder falsche, diejenige, die der Lehrer als Staatsbeamter zu simulieren nicht umhinkann, eben das was durch Ihre Ohren geht und der Nabelschnur bis in ihre Stenographie folgt. Sie verbindet Sie als Gängelband in Nabelform mit dem väterlichen Bauch des Staates” (Derrida 2000, Nietzsche, 59).

 

Diese Art der Rezeption Nietzsches (Pinto 1995, 193f) entfernt sich von jener Apologie der Führer (“…so bedürfen die zu Führenden der Führer”), die Derrida im gleichen Text als Nietzsches autobiographische und historische Wirkung über die Mutter (“die böse oder falsche”) skizziert und die in Deutschland jeden sprachkritischen und dekonstruktiven Umgang gar mit den Zeichenketten des Staates verhindert hat (Riedel 1997). Auf der anderen Seite wird “Nietzsche in Frankreich” (Hamacher 1986) zu einem Autor, dessen Stile (Derrida, Sporen, abgedruckt in: Hamacher 1986, 135ff) die Schrift (die Frau wäre die Schrift, erwägt Derrida) ausbilden und diese Schrift als verführendes, verhüllendes, zu entschleierndes, aber doch nicht einnehmbares Medium vorführen. In Nietzsches Stilistik lässt sich die Metaphysik des Rechts beschreiben, indem sie in Schrift transformiert wird.

Literatur:

J. Derrida/F. Kittler (2000), Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin (Merve).

Gauger, Hans-Martin (1995), Über Sprache und Stil, München
Hamacher, Werner (1986, Hrg.) Nietzsche aus Frankreich. Essays von Maurice Blanchot, Jacques Derrida u.a. Frankfurt a.M. u.a. (Ullstein-Materialien)
Nietzsche, Friedrich (1882), Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrg. v. G. Colli und M. Montinari (KSA) Bd. 3.
Nietzsche, F. (1886): Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: KSA Bd. 5.
Nietzsche, F. (1887): Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: KSA Bd. 5.
Pinto, Louis (1995), Les neveux de Zarathoustra. La réception de Nietzsche en France, Paris.
Riedel, Manfred (1997), Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig.
Simon, Josef (1989), Philosophie des Zeichens, Berlin, New York.