Ödipus

Ödipus ist derjenige, der schlechthin scheitert. In der inhaltlichen Deutung der Psychoanalyse scheitert Ödipus an seinem Begehren: Unter den vielen Frauen wählt er diejenige, die er nicht begehren soll. Er scheitert an seiner Gewalt: Er tötet denjenigen, dem er sein Leben verdankt, seinen Vater, und schließlich scheitert er auch an der Bewältigung seiner Taten, in der Ermittlung des Rechts: Als Inquisitor wird er von seiner eigenen Inquisition zur Strecke gebracht. Das alles macht Ödipus als Figur zum Begründer jenes paradoxalen Verhältnisses, das die Macht zur Wahrheit unterhält. Mit Macht wird eine Wahrheit ans Licht gezwungen, die den mächtigen Wahrheitssucher vernichtet.

Nimmt man das antike Drama des Sophokles als Verfahren der Wahrheitsermittlung, so lassen sich fünf Stationen unterscheiden:

1. Die Anzeige: Die Stadt Theben wird von der Pest heimgesucht, und das delphische Orakel verspricht Befreiung, wenn der Mörder der früheren Königs Laios gefunden und bestraft wird. Ödipus, der herrschende König, verspricht das zu tun.

2. Die Anklage: Der Seher Teiresias, den König Ödipus zum Reden zwingt, klagt ihn mit den Worten an: Der Mörder, den du suchst, bist du. Aber der König glaubt ihm nicht, er sucht nach Beweisen und vermutet hinter der Anklage eine Verschwörung mit dem machtgierigen Schwager Kreon.

3. Die Untersuchung: Die ersten Indizien gegen Ödipus kommen zu Tage. Offenbart werden zwei frühere Orakelsprüche, die lauteten: Laios werde von seinem Sohn umgebracht, Ödipus werde seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten. Aber scheinbar entlasten sie Ödipus. Denn Ödipus hat ja sein Vaterhaus wegen dieses Orakelspruchs verlassen müssen und Laios ließ sein Kind schon nach der Geburt aussetzen.

4. Die Zeugenvernehmung als Beweisaufnahme: Ein Bote aus Korinth überbringt die Nachricht vom Tode des dortigen Königs und muss dabei auf die Frage des Ödipus antworten, dass er in Korinth als Kind nur angenommen worden sei. Die Ehefrau des Ödipus, die Königin Iokaste erkennt nun schon die Wahrheit, die darin liegt, dass der von Laios ausgesetzte Sohn und der von Polybos in Korinth angenommene identisch sind. Vergeblich versucht sie, die weitere Wahrheitssuche aufzuhalten. Denn der nächste Zeuge – unter Zwang vernommen – gesteht die Wahrheit so, dass auch Ödipus sie erkennt. Dieser Zeuge ist ein Hirte und hatte Mitleid mit dem ausgesetzten Kind, er übergab es in Korinth und er war auch an der Wegkreuzung, an der Ödipus, den aus Theben kommenden Laios erschlug.

5.Das Urteil vollzieht Ödipus an sich selbst. Er blendet sich und verlässt die Stadt, Iokaste erhängt sich.

Man muss die literarische, mythologische oder individualpsychologische Bedeutung des Ödipus-Stoffes nicht vertiefen und darf stattdessen hervorheben, was Michel Foucault (1973) als Beispiel für die juristischen Formen der Wahrheit präsentiert hat. Mit und in der Figur des Ödipus beginnt etwas, das mit den Wahrheitsproben konkurriert. Während vormodern der Ankläger vom Beschuldigten eine Probe fordert (er möge bei den Göttern oder bei Gott schwören, dass – wessen er sich berühme – wahr sei, und müsse mit göttlichem Fluch und Vernichtung rechnen, wenn er falsch schwöre), ersetzt das moderne Verfahren der Wahrheitsuntersuchung die Probe durch ein gestuftes Geflecht von Bewegungen, die Sätze aus scheinbar zufälligen Umständen bilden. Was der Bote weiß und was der Hirte sah, war nicht wichtig, bevor es nicht der Untersucher als Wahrheit bezeichnete.

Was wahr ist, ist nicht wichtig und dem kann (noch) nicht geglaubt werden, so lange es nicht das Verfahren der Wahrheitsermittlung, die Beweisaufnahme durchlaufen hat. Der Seher nennt die Wahrheit, aber das genügt nicht. Und schließlich: Die Wahrheit ist nicht einfach nur „da“, man sucht sie, weil man dazu gezwungen wird, man kann nicht anders, als die Wahrheit zu suchen, sogar der Mächtige kann nicht anders, als zu suchen, was ihn nicht vernichten wird, er kann sich der Wahrheit nicht entziehen. Mit der Wahrheitssuche endet alle Unschuld. Mord und Blutschande verbannen den Mächtigen.

Die rechtssemiotische Bedeutung der vernichtenden Wahrheitssuche kehrt wieder in der Figur des Richters Adam (siehe dort). Wer bis dahin nicht wusste, dass Wahrheit mit Unwahrscheinlichkeit verbunden ist, erfährt es in dem dort inszenierten Verfahren.

Literatur:
Michel Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen (dt. bei Suhrkamp; Frakfurt a.M. 2003). Dabei handelt es sich um erstmals 1973 in Rio des Janeiro gehaltene Vorträge, deren zweiter und dritter den obigen Befund näher erläutern, veröffentlicht französisch , in deutscher Übersetzung als Suhrkamp Taschenbuch (Frankfurt a.M. 2002).