Perelman (1982b) unterscheidet drei Suchsysteme nach ihrer je eigenen irdischen Ontologie, nämlich anglo-amerikanisches Richterrecht, kontinentaleuropäisches Gesellschaftsrecht und jüdische Auslegungspraktiken. Während Gott für das jüdische Recht als Quelle aller Offenbarung der alleinige und letzte Rechtsgrund bleibe, sieht Perelman im nachrevolutionären französischen Recht den Text und die parlamentarischen Textwächter den Ort der Quelle besetzen, die eigentlich die Gesellschaft selbst einnehmen sollte. Recht soll danach sein, was die Gesellschaft rechtsförmlich beschließt. Für die Tradition des Common Law zitiert Perelman den Kommentator Blackstone, nach dessen Auffassung das Recht den Richtersprüchen vorausgehe und nicht gemacht, sondern gefunden und erkannt werde.
Die Schnittstelle für diese Transformation markiert ein veritables Fundstück de la pensée perelmanienne: Art. 4 Code Civil (vgl. Perelman 1979: 42; 1982 a: 244; 1982 b: 30). Diese auch von französischen Juristen oft vergessene Vorschrift mutet befremdlich an im System des auslegenden und interpretierenden Rechts, enthält sie doch eine Strafvorschrift wegen Rechtsverweigerung (deni de justice) für Richter, die sich weigern auszulegen, nämlich – wie der Code ausdrücklich statuiert – unter dem „Vorwand des Schweigens, der Unklarheit oder des Ungenügens des Gesetzes“ nicht entscheiden. Verständlich wird diese merkwürdige Vorschrift ohnehin nur, wenn man sich mit Perelman daran erinnert, dass die verfassunggebende Versammlung von 1790 einmal eine sog. „gesetzgeberische Vorlage“ der Gerichte vorgesehen hatte, wonach diese „immer dann, wenn sie glaubten, das Gesetz müsse entweder ausgelegt oder erneuert (novelliert) werden“, das Parlament anrufen sollten. Diese Gesetzgebungsvorlage stand noch ganz im Zeichen der revolutionären Ontologie vom Vorbehalt des Gesetzes, den Perelman (1982b: 30) für Frankreich nach 1790 als charakteristisch bezeichnet hat. Danach solle als Recht nur gelten, was das Parlament rechtsförmlich beschlossen habe. Insofern stehen Auslegungsgebot nach Art. 4 CC und Interpretationsverbot aus Gründen des Parlamentsvorbehalts in einem unaufgelösten Widerspruchsverhältnis.
Perelmans Argumentationskonzept zeichnet sich an dieser Stelle dadurch aus, dass es den Zuhörer überhöht und den einzelnen zum Mitglied eines universalen Auditoriums werden lässt. Das auditoire universel (Perelman 1970: 40) beseitigt den Unterschied zwischen juristisch-fachlichen, literarischen, massenkommunikativen oder politischen Gesichtspunkten. Die Auditorien mögen wechseln und die Anwendungsfälle sich je spezifisch verengen – gleichwohl: Vor dem Horizont des Gerichts soll doch nur bestehen, was sich in der allgemeinen Argumentation noch darstellen lässt (Kopperschmidt (1980: 21). Das Spezifikationsverhältnis ergibt sich dann nur aus der Fallorientierung. Vor Gericht argumentiert man im Zweifel speziell, bezogen auf die einzelnen Daten des Falls, hinter denen zwar allgemeine Sätze stehen, mit denen man aber für sich nichts entscheiden kann. Wenn es im Traité ein allgemeines Gleichheitsgebot als „Gerechtigkeitsregel“ gibt (Perelman 1970: 294), so differenziert Perelman diesen Gleichbehandlungsgrundsatz im juristischen Kontext unter Berufung auf das am Fall entstehende Interesse in alle Richtungen.
Gleichheit bleibt zwar die Grundlage der Gerechtigkeit; sie ist in der Darstellung unverzichtbar, aber das Ergebnis hängt von der Deutung der als „gleich“ zu behandelnden Fälle ab. Denn – wie jedermann weiß – kann nur Gleiches gleich behandelt werden, während Ungleiches gerade unter Gleichheitsgesichtspunkten andere, nicht dieselben und damit im Wortsinne auch ungleiche Ergebnisse verlangt. Die Gerechtigkeitsfrage gerät – so formuliert – in jene Paradoxie, in der sie ein Beobachter des Gesamtsystems findet. Dem Teilnehmer im Auditorium bliebt das ungleiche Gleiche wie das nicht identische Selbige verborgen. Es verlängern sich nur die Argumentationsketten, sie entziehen sich dem flüchtigen, öffentlichen Zuschauer, sie langweilen und werden uninteressant. Schon aus diesem Grund nehmen im juristischen Forum am Ende nur noch die Parteien, ihre Vertreter und die dazu amtlich beauftragten Entscheider teil. Ein Freibrief für losgelöste Fachlichkeit wird damit aber nicht ausgestellt. Das Auditorium soll – so will es Perelman – universell gedacht werden, und das heißt – wie er selbst betont (Perelman 1970: 25) – es soll von Rechts wegen nicht auf einen bestimmten, begrenzten Personenkreis beschränkt bleiben. Auch wenn jedes konkrete Auditorium in einem rechtlichen Verfahren aus abzählbar vielen Personen besteht, lässt sich die Breitenwirkung der Argumentation auf diese nicht beschränken. Nur der Verfahrensdialog endet mit dem Urteil, nicht aber der Rechtsdiskurs.
Literatur:
Kopperschmidt, Josef (2000): Argumentationstheorie zur Einführung.- Hamburg: Junius.
Perelman, Chaïm ((1979): Juristische Logik als Argumentationslehre (Orig. 1976). Freiburg u.a.: Alber.
— (1980a): Das Reich der Rhetorik (Orig. 1977) . – München: Beck
— (1980b): Justice, Law, and Argument. Essays on Moral and Legal Reasoning. – Dordrecht: Reidel.
— (1982a): Recht und Rhetorik. – In: O. Ballweg, Ottmar und T.-M. Seibert (Hg.): Rhetorische Rechtstheorie, 237-245.
— (1982b): Ontologie juridique et sources du droit. – In: Archives de philosophie du droit 27, 23-31.
— (1982c): Eglité et intérêt général. – In: L´Egalité VIII, 615-624.
— (1982d): Das Vernünftige und das Unvernünftige im Recht. – In: Rechtstheorie 13, 151-160.
Perelman, Chaïm / Olbrechts-Tyteca, Lucie (1970): Traité de l´argumentation. La nouvelle rhétorique. – 2. Aufl, Bruxelles: Editions de l´Université. Deutsche Übersetzung v. F.R. Varwig: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren, hrsg. v. Josef Kopperschmidt. 2 Bde., Frommann Holzboog, Stuttgart 2004.
Viehweg, Theodor (1977): Schritte zur Rhetorischen Rechtstheorie. – In: ders. (1995), Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften, mit einer Einleitung hrg. v. Heino Garrn. Baden-Baden: Nomos, 200-205.