Pitaval

Nicht nur unter Juristen ist die Fallgeschichte in erster Linie eine Kriminalgeschichte. Wenn man Schapps Motto „Die Geschichte steht für den Mann!“ als Geschichte versteht, dann interessieren sich Leser für den Mann, wenn er einen Mord begeht, und die Frau, für die eine Geschichte steht, interessiert, wenn sie schön ist, Männer anzieht und dabei entweder Opfer oder Täterin eines Mordes wird. Sex and crime ist ein Rezept, das bereits François Gayot de Pitaval nutzte, ein nach dem Urteil der Zeitgenossen vor allem eloquenter Advokat in der Zeit Ludwigs XIV. Zwischen 1734 und 1743 stellte er eine Sammlung der „causes célèbres et intéressantes“ zusammen, mit denen er zunächst das französische Lesepublikum erfolgreich unterhielt. Es waren Geschichten über Liebe und Mord, die das Publikum fesselten und in denen Hintergründiges wie Abgründiges dargestellt wurde. Pitaval fühlte sich durchaus als Jurist, wollte aber – wie er in der Vorrede zu seinen Geschichten bekennt – auch gelesen werden. Insofern ist es durchaus nicht etwa die originäre Neugier auf das Strafrecht, mit der die Kriminalgeschichten Leser gewinnen. Der heute allseits verbreitete Kriminalroman ist ein spätes Produkt der Medienentwicklung und entsteht in der Breite erst nach Edgar Allen Poes ersten fantastischen Geschichten als Detektiverzählung. Anfangs, d.h. hier: im 17. Jahrhundert ist die Kriminalgeschichte Lesestoff für das Publikum und gleichzeitig Rechtsstoff für Juristen. Hauptpersonen sind nicht selten schöne Frauen wie Renée Corbeau, die Marquise von Gange, Frau Tiquet oder die Marquise de Brinvillier, die einen Opfer, die anderen Täterinnen, einmal wie die Marquise von Gange Frauen, die vielfältige Anschläge auf ihr Leben aushalten und standhaft bleiben um ihres untadeligen Rufs willen, zum anderen unerkannt ehrlose Frauen, die ihr Geschlechtsleben ausleben wollen, jedenfalls nach der Überlieferung von Pitaval. Der Fall wird zwar auch im Prozessverlauf geschildert, es werden sogar Schriftsätze referiert und Urteile in ihrer Tenorierung zitiert, im Mittelpunkt stehen aber die menschlichen Verwicklungen und tragischen Verstrickungen, also jene Geschichten, die nach einer Formel von Wilhelm Schapp (1985) den Mann bzw. die Frau ausmachen. Vorgestellt werden hier zwei Geschichten, von denen die eine zu einer Serie von Giftmorden aus der Zeit Ludwig XIV. gehört, während die andere zwar als Kriminalfall anfängt, aber das Kunststück vollbringt, die römisch-rechtliche causa data non secuta mit einer Spannung zu verbinden, die heute kein Zivilrechtsfall mehr hervorruft.

Zitierte Literatur:
François Gayot de Pitaval, Unerhörte Kriminalfälle, hrg. v. R. Marx, Leipzig 1980, 33; (auch enthalten in: Oliver Tekolf, Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, verfaßt, bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Schiller, Frankfurt a.M. 2005.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1985