Von den wenigen Richterdramen ist das Kleistsche geradezu sprichwörtlich geworden. Der Richter Adam aus Kleists “Zerbrochnem Krug” ist der alte menschliche Adam, der wie der mythische Ödipus sich selbst als Täter entdeckt, was aber im Unterschied zu Ödipus für den allzumenschlichen Adam gar nicht weiter aufregend ist, denn er weiß es von Anfang an. Nur das Publikum weiß es nicht und sieht die Suche nach dem Täter in einer atem- und pausenlosen Suche inszeniert, wobei der Jurist und Intendant Goethe 1808 den Regiefehler beging, für das Publikum Pausen vorzusehen und damit den Publikumserfolg verfehlte. Anders als Goethe es wollte, liegt das Inszenierungsrezept dieser ödipalen Richterverstrickung nämlich in der äußeren Form des Gerichtssaaldramas, d.h. die Szene entwickelt sich im abgeschlossenen Raum und ohne zeitliche Unterbrechung. Eine Verständigung unter den Akteuren über den strategisch günstigen nächsten Schritt ist nicht möglich, so dass alle Vorüberlegungen des Täters gegen die Opfer (wie Adams kläglicher Versuch:”Der Name jetzt, Frakturschrift, Ruprecht Tümpel”) unausgesprochen bleiben müssen. Die Beteiligten bleiben dem Tempo und der Personenzahl einer üblichen Gerichtsszene anheim gegeben. Da werden die schlimmsten Befürchtungen Wahrheit. “Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?” fragt der Richter sich am Anfang und kann damit das Thema vorgeben. Das Thema ergänzt die breit inszenierte Geschichte, wie der Krug zerbrach, und führt – wie man es von einer Ermittlung erwartet – zur Entdeckung des wahren Täters. Dabei ist von Anfang an für das Geschehen zwischen den Prozessparteien eine Ergänzung unter den Amtsträgern vorgesehen, in der ergänzte Sätze Wahrheiten hervorzaubern, die aus “objektiver Sicht” nicht zugänglich sind. So wird die Tatschilderung des Ruprecht:
- Als ich die Tür eindonnerte, so reiß ich Jetzt mit dem Stahl eins pfundschwer übern Detz ihm; Den just, Herr Richter, konnt ich noch erreichen.
durch die spontane Frage des Richters ergänzt: “Wars eine Klinke?”, die zwar Ruprecht nicht versteht (- Was? – Obs- Ja, die Türklinke. – Darum), wohl aber der Schreiber Licht, der weiß, was dahinter steckt und sich schon auf die Suche nach Einzelheiten der Tatausführung begeben hat:
- Licht: Ihr glaubtet wohl, es war ein Degen?
Adam: Ein Degen? Ich – wieso?
Ruprecht: Ein Degen!
Licht: Je nun! Man kann sich wohl verhören. Eine Klinke hat sehr viel Ähnlichkeit mit einem Degen.
Adam: Ich glaub – !
Licht: Bei meiner Treu! Der Stiel, Herr Richter?
Adam: Der Stiel!
Ruprecht: Der Stiel! Der wars nun aber nicht. Der Klinke umgekehrtes Ende wars.
Adam: Das umgekehrte Ende wars der Klinke!
Licht: So! So!
Ruprecht: Doch auf dem Griffe lag ein Klumpen Blei, wie ein Degengriff, das muß ich sagen.
Adam: Ja wie ein Griff.
Licht: Gut. Wie ein Degengriff. Doch irgend eine tücksche Waffe musst es gewesen sein. Das wußt ich wohl.
Das Vergnügen rührt aus einer Serie möglicher Ergänzungen. An der Oberfläche ist der Zeuge Ruprecht der Dumme, der nicht mehr weiß, mit welchem Werkzeug er hantiert hat. Ergänzt werden die dummen Antworten jedoch durch die lichtvollen Kommentare des Schreibers, die nur der Kenner zu deuten weiß. Dabei ist der dogmatische Prozessbeobachter kein Kenner. Fälschlich mahnt der Gerichtsrat, der – woran man sich ergötzen kann – den Sinn der Ergänzungen nicht erahnt, “zur Sache” zurückzukehren. Aus seiner Perspektive erscheint das Ergänzende als überflüssiges Surplus, während es dem kundigen Zuhörer den Kern – die Wahrheit – der Verletzungshandlung offenbart. Ebenso erscheint fälschlich die Prozessordnung als leitendes Medium, wenn den Richter ganz andere Sorgen plagen:
- Adam: Wenn ich freimütig reden darf, Ihr Gnaden, die Sache eignet gut sich zum Vergleich.
Walter: Sich zum Vergleich? Das ist nicht klar, Herr Richter, vernünftge Leute können sich vergleichen; doch wie Ihr den Vergleich schon wollt bewirken, da noch durchaus die Sache nicht entworren, das hätt ich wohl von Euch zu hören Lust. Wie denkt Ihrs anzustellen, sagt mir an? Habt Ihr ein Urteil schon gefasst?
Adam: Mein Seel! Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich lässt, Philosophie zu Hülfe nehmen soll, so wars – der Leberecht –
Walter: Wer?
Adam: Oder Ruprecht –
Walter: Wer?
Adam: Oder Lebrecht, der den Krug zerschlug.
Walter: Wer also wars? Der Lebrecht oder Ruprecht? Ihr greift, ich seh, mit Eurem Urteil ein wie eine Hand in einen Sack voll Erbsen.
Es gehört zu den juristisch-alltäglichen Vorurteilen, den Griff in einen Sack voll Erbsen für ein Musterbeispiel der Willkür und Beliebigkeit zu halten. Scheinbar weiß niemand, was er zu Tage fördert, wenn er in einen Sack greift. Man denkt, es sei völlig beliebig, welche Erbse der Greifer da herausnimmt. Aber eine Erbse nimmt er doch, und die Auswahl ist am Ende nicht so zufällig, wie sie scheint. Ebenso wenig zufällig ist es, wenn der Richter hier völlig frei in den Sack möglicher Täter hineingreift, denn es kommt auf den Sack an, nicht auf die Erbsen. Für denjenigen, der in eigener Sache redet, kommt es darauf an, sich im Hinblick auf mögliche andere zu entlasten. Schließlich darf durchaus rational geraten werden, was man greift, wenn man in einen Sack greift. Nehmen wir etwa einen Sack Bohnen und nehmen an, auf dem Tisch, auf dem der Sack steht, liege eine Handvoll weißer Bohnen, und schon tut sich das Feld pragmatischer Hypothesen auf. “Ich schließe sofort als wahrscheinlich oder als eine berechtigte Vermutung,” – argumentiert der Pragmatiker Peirce (1878: 375) -, dass diese Handvoll aus jenem Sack entnommen wurde”. Präsentiert wird der abduktive Schluss von einem Resultat auf einen Fall. “Peirce über Bohnen” (Eco 1985: 295) liest sich aber lange nicht so eindrücklich, wie sich Richter Adams Verse über Täter anhören. Im Drama supplementiert wird die Methode, Neues zu finden, die man nur durch Erfahrung lernen kann. Sie unterscheidet sich von der deduktiven Ableitung dadurch, dass man mitdenken und nicht alle Prämissen für wirklich halten darf (Reichertz 1991). Auch am Ende muss man mitdenken, und noch im Moment der Enthüllung wird etwas anderes als die Täterschaft des allzumenschlichen Adam enthüllt, zu dem die Spur eines Pferdefußes neben einem Menschenfuß führt. Denn er muss zwar bei seiner eigenen Überführung mitwirken, wird aber vor der Strafe bewahrt. Der Gerichtsrat hält am Ende auf die Reputation des Gerichts. Der Täter erscheint überführt, aber die gerichtsbehördliche Sanktion fällt milde aus: “Zur Desertion ihn zwingen will ich nicht. Fort! Tut mir den Gefallen, holt ihn wieder!” Adam bleibt, er gehört zum rechtsliterarischen Figurenkabinett, zu dem nicht viele gehören. Seine Wahrheit war nicht so schwer zu raten, der Umgang damit im Betrieb des Rechts wäre schwieriger, und genau diesen Umgang spart die Inszenierung aus. Der Rechtsbetrieb und die dem Verfahren aufgegebene Wirklichkeitsfeststellung werden auf die zweite Instanz in Utrecht verlagert, wo Frau Marthe Rechtsmittel wird einlegen müssen. Der Zuschauer sieht davon nichts mehr und erhält insofern eine prämoderne Fassung der Verfahrensfrage. Verfahrenszüge, die wahrhaft und zugleich komödiantisch wirken, Erfolg haben, aber doch das Gefühl des Scheiterns und insofern die adamitische Verstrickung deutlich machen – Prozessrollen für solche Verfahrenszüge sind kaum anzutreffen.
Erwähnte Literatur:
Umberto Eco, Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen, in: ders. und Thomas A. Sebeok (Hrg.), Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei, (1983, dt.:) München 1985, S. 288 ff., 295.
Umberto Eco, Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen, in: ders. und Thomas A. Sebeok (Hrg.), Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei, (1983, dt.:) München 1985, S. 288 ff., 295.
Charles Sanders Peirce, Deduktion, Induktion und Hypothese (1878), in: ders., Schriften Bd. I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung herausgegeben von Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1967, S. 375.
Jo Reichertz, Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizei und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart 1991.