Schreber

Schreber“ ist der Name für einen Text im Diskurs über Recht und Wahnsinn. Im Justizdispositiv wird bestimmt, wer Träger von Rechten sein kann und damit als rechtsfähig gilt und wer diese Rechte ausüben darf. Der Wahnsinnige ist der Unmündige. Der nicht Schuldfähige verfällt zwar nicht dem System der Strafen, insbesondere soll er nicht mit dem Tode bestraft werden, aber gleichzeitig kann der nicht Geschäftsfähige auch nicht am bürgerlichen Leben teilnehmen. Er darf nicht aktiv bezeichnen, er wird bezeichnet.

Schreber war Person und kämpfte gegen das Bezeichnet-Werden. Daniel Paul Schreber war „Senatspräsident“, d.h. in heutiger Amtsbezeichnung: Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Dresden. Er hätte Vorsitzender eines Zivilsenats sein sollen, musste sich aber schon bei Überreichung seiner Ernennungsurkunde in nervenärztliche Behandlung begeben. Behandelnder Arzt war ein Medizinalrat Weber, der gleichzeitig als Gutachter im Entmündigungsverfahren gegen den früheren Richter auftreten musste. Das Landgericht Dresden sprach die Entmündigung aus, gegen die sich Schreber wehrte. Zum Mittel der Gegenwehr erklärte Schreber eine von ihm in der Anstalt verfasste Schrift, nämlich die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, in denen er auf etwa 250 Buchseiten begriffliche Spielereien über obere und untere Personbezirke (vornehmlich seines früheren Behandlers Professor Flechsig) und Gottesreiche, intime Bekenntnisse über die Lust, als Frau „dem Beischlaf zu unterliegen“ oder sich zu entleeren, und schließlich pseudoreligiöse Geschichten über göttliche Strahlen ausbreitete, als deren Medium Schreber sich fühlte. Für den Nervenarzt und Gutachter Flechsig war schon die Schrift ein deutliches Zeichen für den Wahnsinn Schrebers, dessen ansonsten durchaus gepflegte Unterhaltung bei Tische der Arzt zu rühmen wusste; völlig unannehmbar schien ihm Schrebers wahnwitzige Idee, dieses ihn und seine Familie kompromittierende Dokument auch noch zu veröffentlichen. Schreber sah darin jedoch seinen Beitrag für ein kommendes Reich der Zeichen. Die Schrift wurde 1903 tatsächlich veröffentlicht und ist noch heute zugänglich.

Schreber sollte Recht behalten, und zwar zunächst vordergründig im eigenen Verfahren. Die Kollegen des Oberlandesgerichts Dresden hoben die Entmündigung im Hinblick auf Schrebers elaborierten sprachlichen Ausdruck auf und erkannten den Erinnerungen des Klägers „hohen Ernst und das Streben nach Wahrheit“ zu, das niemand verkennen könne. In der Tat wurde Schrebers Schrift zum Zeichen für einen neuen Diskurs über Wahrheit und Wahnsinn. Als erster entdeckte sie Sigmund Freud, der im „Fall Schreber“ (1911) die Merkmale einer durch ödipale Bindungen an einen übermächtigen Vater induzierte Paranoia entzifferte. Tatsächlich gab es neben dem Richtersohn Schreber den ärztlichen Vater Schreber, dessen Handbuch für „ärztliche Zimmergymnastik“ eine orthopädische Nationalbeglückung hätte werden sollen und nach Meinung mancher Interpreten (Santner) auch wurde: Gerade Haltung, unbefleckte Jugend und aufrechte Gesinnung wurden Inhalt einer deutschnationalen Bewegung, deren heute noch bekanntester Ausdruck der „Schrebergarten“ ist. Von dieser Vaterfigur her konnte Freud Plausibilität in die an sich unplausible Lehre über die geschlechtsprägende Kraft des Mythos von Ödipus übertragen. Die „Wandlung zum Weibe“ und die bevorzugte Beziehung zu Gott deutete Freud als Symptom der unbewältigten Vaterbindung. Zum erstenmal jedoch konnte der in der analytischen Kur erst noch hervorzulockende freie Strom der Assoziationen bei Schreber in ausgeführter Schrift besichtigt werden.

Zitierte Literatur: Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt a.M. u.a. 1973 (Erstausgabe 1903).