Akten

Das Wort “Akten” hat Hochkonjunktur. Anders als die klassischen Beweismittel des Prozesses (wie Urkunden, Zeugen oder Sachverständige) lassen Akten Aufschluss über geheime und komplexe Zusammenhänge erwarten. Alle totalitären Diskurse – und gerade sie (siehe: Das Stasi-Syndrom) – gebrauchen Akten, die sich dadurch auszeichnen, daß ihr Inhalt den Betroffenen nicht im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens bekanntgemacht, sondern im Wege des unbeschränkten Ausforschungs- und Untersuchungsgrundsatzes gegen sie verwandt wird. Alle Regimes, die Meinungen unter Kontrolle halten wollen, erwecken gerade damit das Interesse für ihre Akten. Die Verbrechen der Nazi-Regierung einerseits (Hockerts/ Kahlenberg/ Hartmannsgruber) und die Politik des Vatikans im zweiten Weltkrieg andererseits (Blet) haben das Forschungsinteresse an den hinterlassenen Schriften herausgefordert. Im übrigen ist nicht zu verkennen, dass auch demokratische Systeme kaum oder nur beschränkt Einsicht in Akten geben. Auch hier gelten Geheimhaltungsgrundsätze, wenn auch im Interesse des Persönlichkeits- und Datenschutzes. Die Erforschung von Akten verspricht damit Einblick in Bedeutungen, die aufgrund der Bezeichnung von aussen nicht erwartet werden.
Diese Bedeutung haben Akten allerdings regelmäßig erst im nachhinein, dann nämlich, wenn ein Vorgang abgeschlossen ist oder so erscheint. Akten sind Dokumente im Plural. “Acta” nannten sie die Römer, die Protokolle von Senatssitzungen sammelten. Aber die Karriere der Akten begann erst mit der neuzeitlichen Staatsverwaltung. Sachakten vereinigen nicht etwa Autoren und Themen, sie spiegeln vor allem den Gang der Sache in der Zeit. Erst als man in den Behörden anfing, Sachakten zu führen, entwickelten sich Rechtsvorgänge zum Zeichenprozess, in dem jede Äußerung einen festgelegten Ort erhielt (siehe dazu den Eintrag über Cornelia Vismann). Bürokratien richten für die Aktenführung Registraturstellen ein, die Vorgänge nach einem Plan ordnen (Goody, 155ff). Der Plan ergibt sich zunächst aus dem Ort der Aktenführung. Ermittlungsakten werden bei der Verfolgungsbehörde – das waren historisch die Inquisition, dann die Polizei und später auch die Staatsanwaltschaft – geführt. Der doppelte Wille, Tatsachen nicht nur zu hören, sondern auch zu sammeln und mit der schriftlichen Sammlung Macht auszuüben, steht am Anfang der Aktenführung. Das beginnt bei der Polizei. Die Polizei erzeugt einen Fall, indem sie Akten anlegt (Goody, 221f). Dabei werden Papiere und Dokumente in einer bestimmten Ordnung miteinander verbunden und in dieser Form zum Instrument des Verfahrens erklärt. Wer Akten anlegt, benennt die Streitenden beim Namen, schreibt sie auf den Aktendeckel und ernennt sie damit zu Parteien des Prozesses (Muckel 1997, 82-93).
Die Akten erhalten ein Geschäftszeichen, das aus einer Bezeichnung der Behörde und einer Nummer besteht (“Aktenzeichen”), die nach einem Aktenplan zugeteilt wird. Prozessakten werden beim prozessleitenden Gericht geführt. Stehen Ort der Aktenführung und Namen der dort Registrierten fest, gliedern sich die weiteren Eingänge nach der Zeit, in der sie zu den Akten gelangen. Man kann deswegen nicht von vornherein sagen, wie viele Bände Akten haben, ob sie überhaupt als “die Akte” (womit man heutzutage gewöhnlich einen gegenständlich zusammengehaltenen Aktenband bezeichnet; Muckel 1997, 14f) geführt werden können oder die Form des Singulars sprengen. Seit den Tagen der ersten Aktenordnung unterscheiden sich als Zeichenträger für alle sichtbar “dicke” und “dünne” Akten. Sie prägen Schicksale, wobei der Materialität des Trägers bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Neben den kleinen aus 5-50 Blatt bestehenden Sachakten liegen größere bis zu 300 Blatt, die die Festigkeit des Aktendeckels und der Heftung auf die Probe stellen. Aus Bismarcks Zeit stammt die Anweisung, “daß fortan kein Aktenstück schwerer als zwei Kilo wiegen dürfe”. Der Kanzler liebte handliche Verwaltungsmittel. Die Heftung stellt nämlich erst den Zusammenhang der Eingänge her. Ursprünglich wurde sie in Handarbeit hergestellt. Die Eingänge wurden miteinander vernäht. Es gibt Länder und Gerichte, an denen das noch heute so geschieht. Nur durch Naht und Siegel steht zweifelsfrei fest, was zu einem Aktenstück gehört und ihm durch richterliche Verfügung willentlich hinzugefügt worden ist. Ob in einem Verfahren etwas früher hätte “eingeführt” werden können oder müssen, erkennt man dann an der Reihenfolge der Eingänge.
In welcher Weise ein Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt ist, ersieht man an der Reihenfolge der Zeitpunkte, die einzelne Verfahrenshandlungen markieren und den Raum zwischen ihnen – buchstäblich, den Zwischenraum der Aktenblätter – als Schweigen auszeichnen. Die Aktendimension ist radikal verfahrensorientiert, und nur durch sie sind Anfang, Entwicklung und Ende eines Verfahrens überhaupt erst bestimmbar. Das macht es möglich, einzelne Phasen der Feststellung von Tatsachen anhand der Protokolle zu unterscheiden und zu vergleichen. Was man im Diskurs als Irritierbarkeit bezeichnen kann, zeigt sich an den Lesarten, die entsprechende Feststellungen etwa zur Vergewaltigung hervorrufen (Seibert 1996, 79ff). Erst in der Aktenform erhält der juristische Diskurs einen bestimmbaren Autor, einen praktischen Zweck auf der einen Seite, auf der anderen Seite dagegen ein offenes und nach bisher kaum bestimmten Regeln geordnetes Bewertungsspektrum. Akten werden damit zum Medium der Wirklichkeitskonstitution. Als solches auch künstlerisches Medium und in ihrer historischen Entwicklung wird die Geschichte der Akten erstmals von Vismann (2000) dargestellt.
Literatur:
Hans G. Hockerts, Friedrich P. Kahlenberg, Friedrich Hartmannsgruber, Akten der Reichskanzlei, Regierung Hitler 1933-1945, Bd.2, 1934/35, 2 Teilbde. 1999.
Goody, Jack (1990), Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt a.M.
Muckel, Petra (1997), Der Alltag mit Akten – psychologische Rekonstruktionen bürokratischer Phänomene, Aachen.
Cornelia Vismann (2000), Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a.M.
Pierre Blet, Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg. Die Akten des Vatikan.
Matthias Wagner, Das Stasi- Syndrom. Über den Umgang mit den Akten des MfS in den 90er Jahren.