Ausnahme

Die Ausnahme gehört zur Regel wie der Verschluss zur Flasche. Ausnahmen sind etwas Besonderes, sie führen Inhalte in die Regel ein, die regelmäßig eigentlich nicht gelten, aber Regeln wären keine, wenn sie nicht Ausnahmen zuließen. Sie würden in der Welt zerfließen.

Zur genaueren Klärung dessen, was eine Ausnahme ausmacht, ist es nützlich, sich auf das Verständnis der Regel zu beziehen, das Toulmin (Uses of Argument, 150 f.) eingeführt hat, und zu wissen, dass Ausnahmen in der Konkurrenz von Zurückweisungen und Absicherungen angesiedelt sind. Auch wenn die Rechtfertigung eine „Immer-wenn“-Form verlangt, gilt sie nicht uneingeschränkt. Denn das „wenn“ besteht aus Umständen, die bezeichnet werden müssen. Außerdem werden Rechtfertigungen (warrants: W) durch Absicherungen (backing: B) gestützt und diese Absicherungen stehen ihrerseits in einem feldabhängigen Verhältnis zu Ausnahmen. Was als Ausnahme zugelassen werden kann, erfährt man nur, wenn man das Feld, in dem die Regel gilt, gut kennt. Regelbildung bleibt deshalb immer kontextuell gebunden. Toulmin (Uses of Argument, 125 f.) bringt das dadurch zum Ausdruck, dass er den Übergang zu Conclusionen in den von ihm so genannten „substantiellen“ Argumentationen durch umstandsbezogene Qualifikationen (Q) einschränkt, die selbst durch Zurückweisungen (rebuttals: R) gestützt werden. Das vollständige Schema der Argumentation enthält dann zwei Begründungsreihen, nämlich Stützungen für erstrebte Übergänge und Zurückweisungen für mögliche Hindernisse. Es sieht schematisch so aus:

                                  Daten                     →                  Qualifikation / Conclusio
↑                                                 ↑
W: Rechtfertigung                  R: Zurückweisung

B: Absicherung

Das wird oft – auch von Habermas (Wahrheitstheorien, 242) und Alexy (Juristische Argumentation, 115)– übersehen, wenn das Schema so dargestellt wird, als müssten nur Regeln gerechtfertigt werden und Ausnahmen würden nicht mehr auftauchen. Wenn man beide Begründungsreihen sieht, weiß man auch, dass sich die juristische Regelbildung nicht mehr logisch formalisieren lässt. Sie bleibt auf eine mehrstellige Interpretationspraxis bezogen, die rechtstheoretische Peirce-Kenner wie Lorenz Schulz (Das rechtliche Moment, 244 ff.), Alexander Somek (Nachpositivistisches Rechtsdenken, 103 f.) oder Klaus Lüderssen (Genesis und Geltung: 291 f.) als abduktiven Schluss im Unterschied zur juristischen Deduktion semiotisch deuten. Die Regelausdrücke regeln nicht das Schlussverfahren, sondern sie werden selbst Gegenstand des Schlussverfahrens, in dem – wie Lüderssen (Genesis und Geltung, 294) betont – der intendierte Zweck einer Norm durch Mittel umschreiben wird. Wir erfahren, dass Fallumstände – Daten – eine entscheidende Rolle spielen, aber wir vermögen nicht im vorhinein zu sagen, welche Daten von Regelformulierungen zurückgewiesen und welche anderen auf dem Felde der Absicherung bestätigt werden. Die Generalisierung von Regeln und damit die Angabe aller Fälle in ihrem Geltungsbereich ist unmöglich.

Literatur:
Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a.M. 1978.
Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in:H. Fahrenbach (Hrsg.): Wirklihckeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, 211- 265
Klaus Lüderssen: Genesis und Geltung, Frankfurt a.M. 1993.
Lorenz Schulz, Das rechtliche Moment 
in der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce, Ebelsbach 1988.
Alexander Somek: Nachpositivistisches Rechtsdenken
Stephen E. Toulmin: The Uses of Argument, Cambridge 1958.