Neben und vor der Entscheidung soll deren Begründung rechtfertigen, dass Ergebnis oder Inhalt der Entscheidung dem Recht entsprechen. Das ist jedenfalls der moderne Anspruch. Entscheidungsergebnisse können – für sich genommen – schnell lächerlich wirken. Der erste, der den wandelnden Inhalt der scheinbar richtigen und selbstverständlich gesetzesgehorsamen Entscheidung erkannt hat, war der Rechts- und Sozialphilosoph Chaïm Perelman. Am Ende der Rechtsquellenlehre, alle Entscheidungen relativierend, steht für Perelman (1982) ein Ensemble von Begründungen und Interpretationen, die von der Entwicklung der Gesellschaft zeugen. Nicht nur einmal zitiert er in diesem Zusammenhang die Entscheidung des belgischen Kassationsgerichts vom 11. November 1889, wonach Frauen nicht zur Anwaltschaft zugelassen werden dürften. Das zeitgenössische belgische Gesetz verhielt sich zu diesem Punkt nicht, so dass die Klägerin auf eine „Lücke“ hinweisen konnte. Diese liege aber nicht vor, meinte das oberste belgische Gericht zu seiner Zeit. Das Gesetz schweige keineswegs, vielmehr sei es ein so einleuchtender Grundsatz, „die Rechtspflege den Männern vorzubehalten“, dass dies aus diesem Grund nicht ausdrücklich angeordnet werden müsse. Tatsächlich ist die Entscheidung keine 40 Jahre später revidiert worden. Im Jahre 1922 erkannte der Gesetzgeber in Belgien nämlich, dass er tätig werden müsse, weil eine Regelung doch notwendig sei. Mit Gesetz vom 7. April 1922 wurden belgische Frauen, die ein juristisches Doktordiplom erworben hatten, zur anwaltlichen Vereidigung zugelassen. Das 1889 Offensichtliche ist – so resümiert Perelman (1982: 156) – „dreißig Jahre später unvernünftig geworden. Und unvernünftig ist das, was in einer Gemeinschaft in einem gegebenen Zeitpunkt unzulässig ist“.
Im Vordergrund der Rechtssprache, ihrer ausbildungsbezogenen Bemühungen, prozeduralen Strategien und kritischen Interpretationen steht modern der Begründungsanspruch. Die allgemeine Gesellschaftstheorie hat den context of justification als Feld der machttheoretischen und demokratiepraktischen Überlegungen entdeckt. Theoretisch leuchtet der alte Anspruch von Jürgen Habermas (1981: 47 ff.) auch hinüber und hinaus auf die rechtliche Begründung. Gelten soll „der zwanglose Zwang des besseren Arguments, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen lässt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann“. Die Einwände gegen zwanglosen Zwang und rationale Motivationen liegen für den Gehorsam gewohnte und Strategien pflegende Juristen auf der Hand, und es bedurfte seit der Erstveröffentlichung der These im Jahre 1971 langer Theoriearbeiten von Robert Alexy (1978) und Klaus Günther (1988) bis zu der für die Rechtstheorie verfassten eigenen Schrift von Habermas über Faktizität und Geltung (1992), ehe der sozialutopische Begründungsanspruch sich auf die machtzentrierte Prozessprozedur hat übersetzen lassen. Dennoch oder deswegen ist er für die juristische Begründungspraxis wesentlich geworden. Nur vor dem Hintergrund weiterer sozialtheoretischer Überlegungen zur idealen Sprechsituation lässt sich die wolkige Formel des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1973 auflösen (BVerfGE 34, 287), wonach richterliche Tätigkeit nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers bestehe, sondern „einem Akt der bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen“, entspringe und auf „rationaler Argumentation“ beruhen müsse.
Die Sprache der Juristen scheint heutzutage ihre Wichtigkeit, Strahlkraft oder – so sehen es inzwischen auch die Juristen selbst – ihren Überzeugungsgehalt aus den Begründungen zu ziehen, die Entscheidungen erhalten (Müller/Christensen/Sokolowski 1997: 155 ff.; Christensen/Kudlich 2001: 93 ff.). Eines ist allerdings geblieben und beherrscht jede juristische Beratung: Entscheidungen können verschiedene Begründungen haben. Über Begründungen und deren Richtigkeit kann argumentiert werden. Man muss darüber diskutieren, wie man die Klageabweisung begründet, und die Diskussion kann im Ergebnis dazu führen, dass die Klage gar nicht abgewiesen wird. Die Begründungen können also so unterschiedlich sein, dass man zwischen ihnen Widersprüche feststellen kann, die zu anderen Ergebnissen führen müssten. Aber das lässt sich in der Sprache der Begründung nicht abhandeln, genauer: Juristen möchten diese Widersprüche in Begründungen nicht aufscheinen lassen, sie lassen die Einsicht, dass jede dieser Begründungen auch anders ausfallen könnte und also kontingent ist, nicht zu. Rhetorisch gibt sich jede Begründung in der Sprache der Juristen als notwendig aus, und da macht es keinen Unterschied, ob die begründenden Juristen staatlich oder privat bezahlt werden. Zwischen Juristen und neuerdings auch zwischen Obergerichten werden dann semantische Kämpfe über die Richtigkeit ihrer Begründung ausgetragen, wobei die Protagonisten offenbar wiederum meinen, ihre jeweiligen Begründungen seien widerspruchslos zu akzeptieren.
Literatur:
Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a.M. 1978.
Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt a.M. 1988.
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981.
ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992.
F. Müller/ R. Christensen/ M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit. Berlin 1997.
Chaïm Perelman, Das Reich der Rhetorik, übers. v. E. Wittig, München 1980.
ders., „Das Vernünftige und das Unvernünftige im Recht“, in: Rechtstheorie (13) 1982: 151-160.