Fakultät

Der greifbare Text der Gesetzbücher hat die Entwicklung der Rechtswissenschaft geformt. Der Codex Justinianus war in Europa über 500 Jahre nicht greifbar. Erst Mitte des 11. Jahrhunderts tauchte in Pisa eine Abschrift des Codex auf, von der insbesondere die Digesten Interesse weckten. Mit einer Kopie der Digesten fand der Unterricht eines Rechtslehrers, der Irnerius genannt wurde, Zulauf (Wesel 1997, 311ff). Der Text war schwierig, zudem erschien die aufgefundene Handschrift lückenhaft und ergänzungsbedürftig. Der Rechtslehrer las deshalb den Text vor und brachte hier und da Ergänzungen an, die die Studenten mitschrieben. Für sie wurde so aus dem alten Codex ein neuer Text mit wissenschaftlichem Gehalt, denn das real existierende Recht im 12. Jahrhundert verhielt sich nicht nach römischen Regeln (Berman 1983, 199ff). Zeitgenössisch spielte Recht keine ausschlaggebende Rolle. Das änderte sich historisch durch die Rechtsfakultät in Bologna. Irnerius machte dort die Digesten zur Grundlage juristischer Interpolation zwischen Textfragmenten, die einesteils als ehrwürdig und unantastbar, zum anderen Teil aber als lückenhaft und interprationsbedürftig erschienen. In Bologna fanden sich mindestens eintausend Jurastudenten ein, die eine Lehre bezahlten, in der das entfernte römische Recht als zusammenhängendes System in einer Weise interpretiert wurde, die den römischen Juristen ferngelegen hätte (Berman 1983, 227). Der Fakultät gelang es, nicht nur den Text, sondern vor allem auch die neue Methode der Analyse und Synthese von Problemen als vorbildlich zu etablieren. Der sogenannte “mos italicus” forderte auf, Widersprüche zwischen den Quellen zu bezeichnen, die entstehenden Zweifel mit dem wissenschaftlichen Streitstand in pro und contra darzustellen und eine Lösung vorzuschlagen. Die Lösungstypen reichten von der Subordination einer niederen Autorität unter die höhere über die Distinktion bis zur Division (Viehweg 1974, 67ff). Diese Verfahren im Umgang mit einem Text waren neu und fügten sich mit den Methoden der theologischen Scholastik zu einem Wissenschaftstyp, der seitdem die westliche Rechtstradition geprägt hat (Berman 1983, 247ff). Neben der Methode war der römische Text dafür als Handwerkszeug wichtig. Bekanntlich verstand sich die mittelalterliche “deutsche Nation” als Nachfolgerin des Heiligen Römischen Reichs, und die ihr angehörigen Studenten etablierten auf römisch-rechtlicher Grundlage erfolgreich den Beruf eines sogenannten “Juristen”, den es bis zum 12. Jahrhundert nur in Form der iuris consulti oder iuris periti gab, bei denen die freien Künste, insbesondere Rhetorik und Grammatik, zur Ausbildung gehörten. Nun organisiert sich die Universität in Bologna zunächst allein durch eine juristische Fakultät, zu der danach eine medizinische und eine theologische hinzukommen. Die juristische Fakultät übernimmt die handwerkliche Arbeit am tradierten Codex, die zunächst dadurch erledigt wird, daß dem angeblich unveränderlichen Text Randnoten, sogenannte “Glossen”, hinzugefügt wurden. Glossatoren und Postglossatoren werden die gelehrten Juristen ihrer Zeit. Sie organisieren den Kernbestand des juristischen Wissens, ohne sich der Arbeit am Sachverhalt zuwenden zu müssen. Die Sachverhaltsfeststellung bleibt dem Justizapparat in seiner jeweils zeitgenössischen Form überlassen. Vor der Einrichtung eines unmittelbaren, mündlichen Verfahrens sind die Akten einer Fakultät zur Entscheidung oder zur Beantwortung einer Rechtsfrage übersandt worden. Das setzte bereits voraus, daß Rechtswissen als Textwissen anerkannt war. Rechtsanwendung und Rechtswissen werden verknüpft, wobei der Fakultät die Pflege des Wissens übertragen wird. Die juristische Fakultät ist seitdem als Komplement zum Justizapparat das Zentrum der wissenschaftlichen Bildung (Berman 1983, 266f).
Literatur:
Berman, Harold J. (1991), Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a.M.
Viehweg, Theodor (1974), Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. 5. Aufl. München.
Wesel, Uwe (1997), Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München.