Gefängnis

Neben und nach der gerichtlichen Wahrheitsuntersuchung zählen Verfahren der Verhaltenskontrolle zu den wesentlichen Kennzeichen der Rechtsapparate. Die Verfahren der Überwachung und Prüfung, die Foucault als „examen“ bezeichnet, unterscheiden sich von der Untersuchung dadurch, dass die auf die Vergangenheit gerichteten Fragen: Ist das getan worden? Und: Wer hat es getan? unwichtig werden. An ihre Stelle tritt eine Orientierung an Regeln des Verhaltens für Gegenwart und Zukunft: Was soll jetzt getan werden? Was muss man danach tun? Dieses Tun wird nicht mehr untersucht, sondern überwacht. Es ereignet sich dann wie befohlen.

Die hervorragende Einrichtung, ein befohlenes Tun während der Zeit der Überwachung zu gewährleisten, ist das Gefängnis. Im Rechtssystem und insbesondere auch im Strafrechtssystem spielte es nicht etwa von Anfang an die zentrale Rolle, die es in der Moderne erhalten hat. Die römischen Strafen bestanden in Geldbußen, Vermögensverfall und Verbannung. Leibes-, Körper- und Geldstrafen nennt Foucault neben Schande und Demütigung als Kennzeichen für die mittelalterliche Strafen. Nicht als Strafe zählte die Einkerkerung. Sie erhält – folgt man der Darstellung von Foucault (2002: 97) ihren juristischen Ort in Polizeimaßnahmen, wie sie mit den lettres de cachet begannen. Diese Lettres waren Haftbefehle, deren Anlass und Grund interessierte Anzeigeerstatter dem König über die ihm ergebenen Polizeibeamten mitteilten und die der König – wie Foucault/Farge belegen – durchaus nicht willkürlich, erließ, eine Zeit lang aufrechterhielt und dann wieder aufhob. Oft handelte es sich um Sanktionen im Rahmen von Familien, nicht selten auch um Reaktionen geschundener Frauen. Mit dem Gefängnis drängt sich als Gegenstand des Rechtszeichens etwas anderes auf als Gerechtigkeit. „Es entsteht die Idee eines Strafsystems, das nicht die Aufgabe hat, auf Gesetzesverstöße zu reagieren, sondern die Menschen auf der Ebene ihres Verhaltens, ihrer Einstellungen, ihrer Dispositionen, ihres Gefährdungspotentials, ihrer virtuellen Möglichkeiten zu bessern“ (Foucault 2002: 97). Es entsteht in der Folge auch die Idee der Resozialisierung, die mit der Straftat und ihrer gerechten Ahndung nur noch lose verknüpft ist. Der Resozialisierungsvollzug interessiert sich nicht mehr dafür, ob und wie verwerflich der Täter gehandelt hat, sondern für sein zukünftiges, möglichst gesellschaftskonformes Leben. Dafür sollen Verhaltensweisen gelernt und Lektionen der Abschreckung erteilt werden.

Das Gefängnis als Ort prägt – wie Foucault (1976) zeigt – ein ganz eigenes semiotisches Raumsystem aus. Verhältnismäßig Wenige beobachten von zentraler Warte verhältnismäßig Viele, die ihre Beobachtungs- und damit Überwachungssituation kennen und bei genügender Institutionenkenntnis schon verinnerlicht haben. Sie brauchen dann nur noch möglicherweise überwacht werden. Dazu eignen sich panoptische Räume mit zentraler Beobachtungswarte am besten, wie sie Jeremy Bentham 1791 erstmals entworfen hat (Foucault 1976: 258 ff.). Die Überwachten können nicht sehen, ob sie aktuell wirklich überwacht werden, müssen aber jederzeit damit rechnen. Sie müssen auch damit rechnen, dass jede Bewegung und jeder Schritt Folgen nach sich ziehen, wenn die offiziellen Verhaltensregeln nicht eingehalten werden. Andererseits gelten diese Regeln keineswegs ausnahmslos. Im Gefängnis kann sich – eben weil die Überwachung kaum jemals lückenlos erfolgen kann, ein Raum größter Gesetzlosigkeit entfalten. Weil nichts erlaubt ist, wird alles möglich. Die moderne kriminalsoziologische Forschung präsentiert dazu die Einzelheiten.

Literatur:
Michel Foucault (1976): Überwachen und Strafen (frz. Paris 1975 als Originalveröffentlichung zu Lebzeiten des Autors).
ders. (2002): Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M., dort insbesondere die 4. Vorlesung (erstmals 1973 gehalten, im Französischen veröffentlicht in: Dits et Ecrits, Bd. 3, Paris 1999.