Der Rechtsdiskurs findet an einem hervorgehobenen Ort statt, auf den sich Hoffnungen und Befürchtungen der Beteiligten ebensowie Neugier und Irritation der Forscher richten: den Gerichtssaal. Der forensische Diskurs kennt rituelle Formeln des Aufrufs der Sache, der Eröffnung einer Verhandlung, des Schlusses der Beweisaufnahme, der Gelegenheit zum , des letzten Worts und schließlich der Urteilsverkündung. Entschieden wird aufgrund einer mündlichen Verhandlung, die öffentlich ist, wenngleich reales Publikum bei den meisten Verhandlungen fehlt.
Seit der französischen Revolution hat der Gerichtssaal dogmatischen Vorrang vor der Schrift (Gauchet 1989, 170). Verhandelt werden soll dort mündlich, unmittelbar – d.h. mit möglichst geringer Bezugnahme auf Schriften – und im zeitlichen wie persönlichen Zusammenhang eines einheitlichen Verfahrens. Die Verhandlung im Gerichtssaal kanalisiert die Rechte der sprechenden Subjekte auf Teilnahme und Teilhabe am Rechtsdiskurs. Man muss anwesend sein. Die Positionen des Senders wie des Empfängers im Gerichtsraum sind räumlich bestimmt (Seibert 1996, 167-174). Es herrscht eine Drei-Personen-Beziehung. Der Kläger – im öffentlichen Strafprozess: der Staatsanwalt als objektiver Ankläger – ist Sender einer Botschaft, gegen die sich die Beklagten des Zivilprozesses und die Angeklagten des Strafprozesses verteidigen können. Sie dürfen sich äußern, müssen es aber nicht. Auch Schweigen gilt als Kommunikation und kann je nach Prozessform als Zustimmung (in Zivilsachen), als Erhöhung der Beweislast des Anklägers (in Strafsachen) oder als Ablehnung (im Vertragsrecht) gedeutet werden. Die Maximen des Prozesses haben freilich fiktiven Charakter. Die Semiotik der Kanalisierung zeigt sich in ihrer Faktizität erst, wenn das Verhalten im Gerichtssaal empirisch untersucht wird. Dieses Verhalten lässt nicht allein Sprache genügen, und es mündet nicht nur in Rechtswahrnehmung. Vielmehr haben die Untersuchungen zum “courtroom behavior” anstelle der Rechtswahrnehmung andere gegenläufige Beobachtungen erbracht: Hier zeige sich die Macht des Rechtsbefehls daran, dass der Rechtsunterworfene im Prozess in vielfältiger Weise degradiert werde und diese Degradation als zeremonieller Sinn des Verfahrens erscheine (Garfinkel 1956). Dieser These steht das Postulat gegenüber, der Adressat einer mündlichen Rechtsbotschaft solle diese verstehen und akzeptieren können, mithin verfehle die Justiz die ihr gesellschaftlich aufgegebene Funktion, wenn sie Degradierung und Schweigen anstelle von Teilnahme und Teilhabe bewirke (Hoffmann 1983). Die Degradierungsthese ist semiotisch zuerst in der amerikanischen Diskursanalyse formuliert worden; sie hat eine Fülle kritischer Analysen über das Verhalten des Rechtsstabes entstehen lassen. Das Verstehenspostulat kommt aus der linguistisch angeleiteten Pragmatik, ist aber auch in der Rechtstheorie als Ausdruck eines befreienden Rechtszeichens proklamiert worden.
Die Degradierungsthese stammt von Harold Garfinkel (1956). Als einer der ersten Analytiker des Rechtsdiskurses hat er die Vernetzung von Recht, Macht und Wahrheit im Justizdispositiv dadurch offengelegt, daß er die Gerichtsverhandlung nicht als Teil der Rechtskonkretisierung, sondern als Form der Machtdurchsetzung verstanden hat. Das geschah mit dem Blick des Anthropologen und Ethnomethodologen auf notwendige Praktiken der Identitätsdegradierung. Garfinkel ging davon aus, dass jede nicht vollständig anomische Gesellschaft über Prozeduren verfügen müsse, mit denen Gesellschaftsmitgliedern ihr Unwert gezeigt werden könne. Die öffentliche Anklage entspreche insofern dem Paradigma moralischer Entrüstung und müsse aus diesem Grunde eine Anzahl besonderer, alltäglich bekannter Zeremonien pflegen. Sie gehören der Konstitution der Rechtszeichen an und werden von Garfinkel in acht Stufen geschildert, die damit beginnen, dass Vorfall und Täter als “außergewöhnlich” hervorgehoben werden, in ein Wertschema überpersönlicher Art gebracht werden und damit enden, dass der an den unteren Rand der Werteskala herabgestufte Täter als “Fremdling” der Gesellschaft erscheine. Im Anschluss an Garfinkel sind eine Reihe diskursanalytischer Studien entstanden, die mit sprachsoziologischen Methoden die Degradierungsthese stützen, wenngleich ihre Autoren den Nutzen solcher Praktiken anders als Garfinkel nicht sehen oder nicht schätzen (Schumann und Winter 1975; Schütze 1978, 90f). “Diskursanalyse” hieß dabei zunächst einfach die Aufzeichnung empirischer Daten im Gerichtssaal und deren anschließende Interpretation (Wunderlich 1976, 293ff). Begonnen wurden solche Analysen zuerst von Ruth Leodolter (1975), deren Transkriptionen im deutschen Sprachraum eine Resonanz gefunden haben, die sich aus dem schmalen Untersuchungsbereich der Verkehrsstrafsachen an erstinstanzlichen Gerichten Wiens kaum erklären lässt. Der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde hier zum ersten Mal empirisch der Herrschaftscharakter des Rechtsverfahrens demonstriert. Wunderlich (1976, 367ff) nahm darauf ebenso Bezug wie Hoffmann (1983). Beide modellierten über Leodolter hinausgehend ein sprachpragmatisches Sender/Empfänger/ Botschaftsdreieck, mit dem das Sprechaktmodell zu einer Theorie der rechtssprachlichen Handlungen erweitert wird. Die Position des sprachmächtigen und damit herrschaftlichen Senders erscheint notwendig mit Juristen besetzt, mit denen der nichtprofessionelle Angeklagte nach den von Hoffmann (1983, 376f) empfohlenen Darstellungsmaximen kommunizieren soll, so wie der Gerichtsvorsitzende sich auf die Darstellung des Laien einstellen kann. “Gegenstrategien” deutet Schütze (1978, 91) an und eröffnet ähnlich wie Rodingen (1977) den Kampf gegen die juristische Zeichenherrschaft. Rodingen (1977, 91-105) denunziert neben dem justizförmigen Ausdruck die gesamte Konzeption des Rechtszeichens als Herrschaftsmittel. Im angloamerikanischen Sprachraum vertrat O´Barr (1982) die gleiche These, wonach die Amtsjuristen durch machtdominierte Sprachpraktiken den Zugang zum Rechtsdiskurs selbst dann verwehren, wenn die Beteiligten, insbesondere die Angeklagten, physisch präsent sind, sich von Rechts wegen äußern dürfen und es auch tatsächlich tun. William O´Barr hat mit der Unterscheidung von “powerful versus powerless speech” und der gleichzeitigen Parteinahme für “women´s language” die Degradierungsthese aktuell fortwirken lassen (O´Barr 1982, 64ff). Auch Diskurskonzepte wie Lyotards différend lassen auf eine Degradierung der selbst ernannten Revolutionäre im deutschen Baader/Meinhof-Prozeß schließen (Christodoulidis und Veitch 1997).
Das Verständigungspostulat hat mit der Differenzierung der Sprachpragmatik Eingang in die Analyse gefunden. Im Rahmen einer mehrstufige Diskurs- und Konversationsanalyse hat der aggressive Charakter der semiotischen Untersuchungen im Gerichtssaal abgenommmen. Zu beobachten sind solche Differenzierungen sowohl in der linguistischen Pragmatik wie auch in einer konsensuell orientierten Rechtstheorie (Somek und Forgó 1996, 231ff). Die linguistische Pragmatik wurde – ausgehend von Wunderlich (1976) – durch differenzierte Studien von Hoffmann (1989) weitergeführt und findet sich heute in der Tradition konversationsanalytischer und hermeneutischer Feldforschung, wie sie theoretisch von Oevermann (1986) und Soeffner (1989) im Bereich der verstehenden Soziologie begründet worden ist. Der Sinn einer möglichst genauen Erfassung des aktuellen Dialogverlaufs durch eine Transkription liegt darin, Verstehenshorizonte des Adressaten nicht nur nachzuzeichnen, sondern auch vorsichtige Empfehlungen für die Sender von Rechtszeichen zu geben. Das geschah zum ersten Mal bei Atkinson und Drew (1979, 194-216) für Signale des Nichtverstehens, Pausen oder Widerspruchsversuche, Ludger Hoffmann (1983, 379f) macht daraus ein Maximensystem für Richter und Angeklagte, während Stephan Wolff für die Erstattung psychiatrischer Gerichtsgutachten zur Schuldfähigkeit ausdrücklich die Frage formuliert: “Erreichen Gutachter ihre Adressaten?” (Wolff 1995, 251). Zentral für die Verständigung in Gerichtsverhandlungen scheint vor allem eine Orientierung an Normalformen der Erzählung zu sein. Ob “mundanes Denken” (Pollner 1974) die gerichtlichen Zuhörer zur Annahme oder Ablehnung einer Einlassung motiviert, haben Bennett und Feldmann (1981) für den amerikanischen Gerichtssaal empirisch untersucht. Die Entscheidung einer amerikanischen Jury beruht darauf, dass die Juroren in der Zusammenfassung des Prozessergebnisses, wie sie es von den Juristen hören, eine glaubwürdige Geschichte erkennen oder nicht (Bennett und Feldmann 1981, 154f; O´Barr 1982, 26f; Walter 1988). Für den kontinentaleuropäischen Rechtsraum sind die Verstehensmöglichkeiten als Verständigungspostulat an das Gericht adressiert worden. Die Perspektive des Angeklagten und die Dynamik der Richter/Rechtsanwalts-Interaktion haben die Forscher im Gerichtssaal untersucht (Reichertz 1984; Hoffmann 1989). Es ist kein Zufall, dass gerade das Jugendgericht etwa bei Reichertz (1984) oder in den französischen Untersuchungen des CNRS (Varinard 1982) Gegenstand analytischer Transkription geworden ist. Hier können Analysen in Verstehenshilfen umgesetzt werden – jedenfalls solange der Wahrheitsanspruch und die Rechtsbegrenzung gegenüber der gesellschaftlichen Machtdurchsetzung zur Geltung gebracht werden können. In dem Maße, in dem jugendliche Täter als gefährlich und tendenziell unverbesserlich erscheinen, gewinnt hingegen die Degradierungsthese wieder größeres Interesse. Das Verständigungspostulat benötigt insofern immer auch eine Fundierung durch die Juristen und innerhalb der Jurisprudenz selbst.
Literatur:
Atkinson, J. M./Drew, P. (1979), Order in Court. The Organisation of Verbal Interaction in Judicial Settings. London/Basingstoke.
Atkinson, J. M./Drew, P. (1979), Order in Court. The Organisation of Verbal Interaction in Judicial Settings. London/Basingstoke.
Bennett, W.L./Feldmann, M. S.(1981), Reconstructing Reality in the Courtroom. London und New York.
Christodoulidis, Emilios A., und Veitch, Scott (1997), The Ignominy of Unredeemed Politics. Revolutionary Speech as Différend, International Journal for the Semiotics of Law X: 141-157.
Garfinkel, Harold (1956), Conditions of succesful degradation cermonies, American Journal of Sociology 61: 420-424, dt. in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten III. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Frankfurt a. M 1977.
Gauchet, Marcel (1989), La Révolution des droits de l´homme, dt.: Hamburg 1991.
Hoffmann, Ludger (1983), Kommunikation vor Gericht. Tübingen.
Ders. (ed.) (1989), Rechtsdiskurse. Untersuchungen zur Kommunikation in Gerichtsverfahren. Tübingen.
Leodolter, Ruth (1975), Das Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht. Ansätze zu einer soziolinguistischen Theorie der Verbalisierung. Kronberg.
O´Barr, William (1982), Linguistic Evidence. Language, Power, and Strategy in the Courtroom. New York und London.
Reichertz, Jo (1984) (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Analysen jugendgerichtlicher Interaktion. Tübingen.
Schütze, Fritz (1978), Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht – eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer, in: W. Hoffmann-Riem/H. Rottleuthner/F. Schütze/A. Zielcke (Hrsg.), Interaktion vor Gericht. Baden-Baden: 19-100.
Schumann, Karl-Friedrich/Winter, Gerd (1975), Die Beobachtung im Gerichtssaal, in: Blankenburg, Erhard (ed.), Empirische Rechtssoziologie. München: Piper: 77-95.
Seibert, Thomas-M. (1996), Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, Berlin.
Soeffner, Hans-Georg (1989), Auslegung des Alltags – Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt a.M.
Varinard, André (1982), Actions et interactions dans l´institution judiciaire. Paris.
Walter, Bettyruth (1988), The Jury Summation as a Speech Genre. An Ethnographic Study of What it Means to Those Who Use It. Amsterdam.
Wolff, Stephan (1995), Text und Schuld. Die Rhetorik psychiatrischer Gerichtsgutachten. Berlin/New York.
Wunderlich, Dieter (1976), Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt a.M.