Gesetzbücher

Die vornehmste Zeichenkette der Rechtswissenschaft ist das Gesetz selbst. Als Werkzeug wird es zu einem greifbaren Gegenstand. Der erste bekannte Gesetzestext des Hammurabi war auf einer steinernen Stele eingemeißelt, das erste römische Gesetz wurde von den Plebejern eingefordert, die sich gegen die patrizische Herrschaft schützen wollten. Es sollte deshalb gegenständlich verkörpert sein, wobei Max Weber (1976, 488) mit der Schriftform das “Interesse der Rechtssicherheit” hervortreten sieht. Nach der Überlieferung schrieben zehn Männer die Gesetze auf vermutlich hölzerne Tafeln (Bretone 1987, 283), die vor der Rednertribüne auf dem Forum aufgestellt und damit öffentlich eingesehen werden konnten. Den zunächst zehn Tafeln sind – wie Pomponius berichtet hat – später noch weitere zwei hinzugefügt worden. Das so verkörperte “Zwölftafelgesetz” ist allerdings weder im Text noch gar in der Tafelform überliefert worden. Lediglich die Geschichte seiner Entstehung ist in den Digesten des Kaisers Justinian erhalten, und Teile des Inhalts sind rekonstruiert worden. Man liest über den Beginn eines Prozesses kontextlose Sätze der Art: “Wenn er vor Gericht ruft, soll er gehen. Wenn er nicht kommt, muß er Zeugen hinzuziehen. Dann soll er ihn greifen. Wenn er Ausflüchte macht, soll er ihn förmlich in seine Gewalt nehmen” (Text der 1. Tafel, 1f, bei Wesel 1997, 160). Gemeint sind die Prozesshandlungen des Klägers gegenüber einem Verklagten. Ob die Schriftform des Gesetzes den Gewaltunterworfenen wirklich genützt hat, ist in der Geschichtsforschung wie auch von den Zeitgenossen bezweifelt worden. Jedenfalls erscheint die “sinnlich fassbare Wirklichkeit” (Bretone 1992, 68f) als genuiner Ausdruck der Rechtswissenschaft. Wo gesetzliches Recht niedergeschrieben worden ist, gibt es Rechtswissenschaft in dem Sinne, dass diese das Gesetz hervorbringt und durch dessen Auslegung wiederum zu weiterer Systematisierung getrieben wird. Als exemplarisch für diese Funktion darf man den Codex Justinianus ansehen, der am Ende der römischen Rechtsentwicklung zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als das Recht im allgemeinen Wissensgefüge “nicht mehr auf einem der vorderen Plätze” stand (Bretone 1992, 251). Der im Jahre 529 beendete Novus Codex enthielt als sogenannte “Konstitutionen” Edikte der Kaiser, die zuvor im juristischem Responsum mündlich überliefert worden waren. Bretone (1992, 140f) weist darauf hin, dass die römische Rechtswissenschaft früher dem Gedächtnis der Mitbürger mündlich überliefert worden ist. Erst in der späten Kaiserzeit schrieben die Juristen aufgrund kaiserlicher Ermächtigung durch Siegel bestätigte responsa signata an die Richter. Die Edikte der Kaiser selbst stellten den normativen Codex dar, der etwa über den Gerichtsstand die folgende Konstitution (3,13,2) enthält: “Du forderst, die Ordnung des Rechts umzukehren, wonach nämlich nicht der Kläger dem Gerichtsstand des Beklagten, sondern der Beklagte dem des Klägers folgen solle. Denn der Beklagte darf nur da, wo er seinen Wohnsitz hat oder zur Zeit der Eingehung des Kontrakts gehabt hat – auch wenn er ihn danach verlegt hat – belangt werden” (nach Härtel und Kaufmann 1991, 74). Der Sinn der Verschriftlichung bestand ausdrücklich darin, dass die Rechtsvertreter vor Gericht nunmehr den Codex rezitieren mussten, wenngleich es ihnen freistand, andere Quellen und Meinungen hinzuzufügen (Bretone 1987, 252). Auch dafür enthielt der Codex Justinianus greifbares Material: Den 12 Büchern Konstitutionen folgten 50 Bücher Digesten, eine Sammlung aus den Schriften der Juristen, und 4 Bücher Institutionen als juristisches Lehrbuch. Jack Goody (1990) hat den historischen Weg der Gesetzesschrift vom alten Ägypten über die Verwaltung der frühen bürokratischen Staaten bis zur Organisation von Gerichtshöfen rekonstruiert. Seine anthropologische Untersuchung stützt zum großen Teil, was Derrida zur Logik der Schrift als eines normativen Konzepts entwickelt. Das Gesetz muss vorweisbar sein. Gleichzeitig ist sein Inhalt notwendig lückenhaft, denn der greifbare schriftliche Satz ist begrenzt und deutbar. Wegen seiner Grenzen und Deutungsmöglichkeiten dient er als Werkzeug der wissenschaftlichen Entwicklung des Rechts.
Literatur:
Bretone, Mario (1992), Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München.
Goody, Jack (1990), Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt a.M.
Härtel, Gottfried, und Kaufmann, Frank Michael (1991) (Hrsg.), Codex Justinianus. Leipzig (Reclam).
Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen.
Wesel, Uwe (1997), Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München: Beck.