Gespenster

Gespenster treten im Rücken des Rechts auf, gesehen hat sie Jacques Derrida (siehe auch gesonderten Eintrag)

Semiotisch muss man alles für möglich halten, denn jedes Zeichen kann täuschen. Vielleicht ist heimlich nichts dahinter, und der Gegenstand, auf den referiert wird, fehlt. Unheimlich wird es umgekehrt, wenn etwas dahinter ist, die Zeichen dafür aber übersehen werden, vielleicht auch fehlen. Gespenstisch wird es, wenn ein wichtiges, zentrales Ereignis verdrängt erscheint und sich aufdrängt – durch Zeichen, deren Referenz man vergessen hat oder nicht wissen möchte. Gespenster sind zeichenhaft, aber nicht fleischlos. Sie gewinnen ihren Zeichencharakter gerade daraus, dass man sie nicht einfach verdrängen und für bloße Einbildung erklären kann. Außerdem gibt es immer mehr als ein Gespenst, wenn es denn Gespenster überhaupt gibt. „Spectres“ hat Derrida in der marxistischen Perspektive entdeckt, denn bekanntlich beginnt das kommunistische Manifest von 1848 mit dem berühmten Satz: Ein Gespenst geht um in Europa … Gespenster begleiten alle Realität bildenden Zeichen: Sie drängen dem Empfänger, der sie sehen kann, auf, dass die Realität gar nicht das ist, was sie zu sein scheint. Das Unwirkliche wird gespenstisch wirklich. 

Auch das Recht als Realitätsfaktor wird folgerichtig von Gespenstern heimgesucht. Das geschieht an zentraler Stelle. Jede wirkliche Entscheidung hat etwas Gespenstisches. Sie scheint zwar am Ende eines Verfahrens zu leuchten und ein Ergebnis zu präsentieren, aber gleichzeitig wird sie verdunkelt durch das, was ausgeschlossen worden ist, das positiv Verkündete wird heimgesucht vom potentiell Sagbaren. Dabei erfährt nur die erste, die verkündete Seite die notwendige Stärkung. Das Gespenstische im Recht und durch das Recht tritt dadurch vollends hervor. Die Gerechtigkeit soll kraftvoll sein, enforced, aber die Kraft, die sie durchsetzt, ist nicht die Kraft des Rechts, sie stammt aus der gründenden Staatsmacht und gebraucht die Mittel ungerechtfertigten Zwangs. Macht und Gewalt gespenstern im Rückraum des Rechts.

Dem Fundament des Rechts in Macht und Gewalt hat Derrida breiten Raum gewidmet. Darin besteht eigentlich das Neue und – wenn man den Ausdruck gebrauchen will – Postmoderne in der Rechtskonzeption Derridas. Gewalt wird nicht als das Andere des Rechts ausgesperrt, Gewalt erscheint auch nicht eingehegt und friedlich gezähmt durch das Recht, sie ist in dessen Kern jederzeit und in jeder Handlung präsent. Dem Recht unterlegt wird eine detaillierte „Gespenstergeschichte“ (Gesetzeskraft: 93), in der eine Institution die Hauptrolle spielt, die jeder kennt, die immer Recht hat (oder Recht haben will) und doch nicht selten und vor allem professionell gewaltsam Unrecht durchsetzt: die Polizei. Das Gespenstische der Polizei benennt Derrida mit und in einer alten Studie von Walter Benjamin aus dem Jahre 1921 unter dem Titel „Zur Kritik der Gewalt“. In dieser Studie versucht Benjamin Rechtssetzung und Rechtserhaltung voneinander zu unterscheiden, und Derrida beobachtet, wie Benjamin die Polizei nicht etwa nur als Hüterin des Gesetzes ausmacht, die nur dort vertreten wäre, „wo Gesetzeskraft existiert“ (Gesetzeskraft: 93). Denn gleichzeitig bringt die moderne Polizei das Gesetz, „von dem man annimmt, das sie es eigentlich bloß anwendet“ (96), auch hervor. Damit ist die zentrale Stelle der gegenwärtigen Rechtstheorie bezeichnet, die alle postmodernen Motive orchestriert: Es gibt keine Trennung zwischen Anwendung und Setzung, zwischen Herstellung und Darstellung des Rechts, zwischen Entscheidungsfindung und deren Begründung, und doch halten wir an diesen Unterschieden fest. Sie sind selbst schon Teil des gewaltsamen und gespenstischen Rechtsauftritts. Denn – referiert Derrida im Anschluss an Benjamin – in der absoluten Monarchie war Gewalt normal und zeitgemäß, in der Demokratie soll sie an den Rand gedrängt werden, taucht aber im Zentrum wieder auf. Dort steht die Polizei, die „auf erschlichene Weise und im Verborgenen Gesetze macht“ (97) – erschlichen, weil die Polizei nur ausführen soll, verborgen, weil die etablierte Rechtslehre nicht erkennen kann, dass Anwendung und Neuschöpfung vermischt sind, sich gegenseitig stören und auf Dekonstruktion warten.

Derrida verfällt dabei nicht einer einseitigen Polizeikritik, sondern stellt sogleich fest, dass die revolutionäre Gewalt demselben Prinzip folgt. Jede Revolution muss – im Namen höheren Rechts – Gewalt einsetzen. „Konsequenz: Jeder Rechtsvertrag gründet auf Gewalt. Es gibt keinen Vertrag, für den Gewalt nicht Ursprung und Ausgang wäre.“ (97) Demgegenüber beschwört Benjamin die Unterredung „als eine Technik ziviler Übereinkunft“, in der die gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich sei, wenn „die Kultur des Herzens“ die Mittel der Übereinkunft bereitstelle, als da wären: „Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen und was sonst hier noch nennen ließe“ (Benjamin 1965: 22). Dieser Idylle stimmt Derrida nicht zu. Er liefert uns stattdessen den zwei Gewalten aus, die innerhalb des Rechts für Unruhe sorgen: auf „der einen Seite die Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit, auf der anderen die Gewissheit des Unentscheidbaren – aber ohne Entscheidung.“ (112) Beide Momente finden sich in jedem Entscheidungsverfahren, schon deshalb weil das Verfahren die Entscheidung aufschiebt. Man hört erst einmal die andere Seite an, man versucht erst einmal zu klären, was man vermeintlich wissen muss, und beginnt dann zu ermitteln, was man noch nicht weiß, man verhandelt über das Problem der Entscheidung mit dem Gegner, mit Dritten oder in ersten, zweiten und dritten Rechtszügen. Die Entscheidung lässt auf sich warten, und doch soll sie sofort, umstandslos, klar und regelnd ergehen, sie muss „frisch“ sein – wie Derrida (Gesetzeskraft: 47) in Anlehnung an Stanley Fish hervorhebt -, wenn sie denn überhaupt entscheidet. Damit entsteht die berühmte Herkules-Aufgabe für Rechtsanwender in neuem Gewande, denn die Entscheidung soll natürlich nicht nur schnell ergehen, sie darf auch nicht „in der Nacht des Nicht-Wissens“ (Gesetzeskraft: 54) ergehen, sie soll natürlich richtig sein. Diesen doppelten Test besteht keine wirkliche Entscheidung! Als Gespenst suchen die verdrängten Möglichkeiten das Publikum wie den Entscheider heim.

Zitiert wurde aus: Jacques Derrida, Spectres de Marx, Paris 1993 (dt. Wien 1995) und: ders., Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, (Orig.: Force of Law, 1990), dt.: Frankfurt a.M. 1991.