Das wichtigste praktische Werkzeug des Rechts sind heute die Justizbehörden. Recht wird seit langem nicht mehr von einzelnen Richtern in souveräner Entscheidung gefunden, sondern unselbständig hergestellt in einem organisierten, materiell abhängigen Apparat von Funktionen und Funktionären. Dabei ist die praktische Rechtsfindung neuzeitlich schon lange nicht mehr allein Sache der Richter. Auch wenn Richter normativ alle Aufgaben an sich ziehen können, sind sie nach Ausbildung, Kenntnis und Zeiteinteilung nicht in der Lage, die wichtigen äußeren Vollzüge auszuführen oder zu überwachen. Schon die im Dispositiv wirksamen Machtfunktionen verlangen eine gegliederte, durch Stellen differenzierte bürokratische Organisation. Ein Antrag wird nicht einfach gestellt. Da er zu Papier und dann in Akten gebracht werden muss, sind Kanzleien mit Rechtsantragsstellen notwendig, wenn die Antragsteller sich nicht überhaupt eines Advokaten bedienen, der selbst über eine Kanzlei verfügt. Die Akten werden auf Geschäftsstellen geführt, über die Kosten der Akten- und damit Verfahrensführung wachen Revisoren, die möglicherweise erstrittenen Titel werden von besonderen siegelführenden Beamten ausgefertigt, während sogenannte “Rechtspfleger” als Richtergehilfen eine Fülle praktischer Aufgaben in der Rechtsdurchsetzung übernommen haben. Das deutsche Rechtspflegergesetz wurde erstmals 1923 erlassen. Es markiert den Weg vom königlichen Richtertum in die von Max Weber ehemals als Merkmal der Parteiorganisation beschriebene “Maschinerie” (Weber 1976, 845ff). Aus der richterlichen Arbeit sind jene Vollzüge weitgehend ausgesondert worden, die in einem justizförmig organisierten Rechtswesen die äußeren Hürden darstellen: Antragstellung, Kostenfestsetzung, Vollstreckung, Zwangsversteigerung. Folgerichtig beobachtet Arno Baruzzi (1990, 186ff) “Maschinalisierung” im Justizwesen. Sie beginnt bei den herkömmlichen Apparaten jeden Behördenbetriebs. Kalender bestimmen den Beginn, den Ablauf und die Dauer von Verfahrenabschnitten. Verjährung ist eine Sache des Kalenders, die Einhaltung von Fristen für die Verhandlung wird kalendermäßig in den Geschäftsstellen überwacht. Kassen registrieren Geldeingänge, die in allen Verfahrensordnungen einen Prozess überhaupt erst in Gang bringen. Die Hinterlegung von Sicherheiten, der Kostenvorschuss, die Eintreibung von Gebührenschulden setzen die Anlage einer Gerichtskasse voraus. Wagen werden zum Befördern von Akten ebenso wie von Justizpersonal oder Gefangenen benötigt. Der “Aktenwagen”, der “Dienstwagen” oder der “Gefangenentransport” sind nicht nur Transportmittel innerhalb der Justiz, sie kennzeichnen apparativ organisierte Abläufe. Messgeräte werden – seitdem sie in der Wissenschaft zum Prüfstein des Experiments geworden sind – zu Apparaten der Tatbestandsbestimmung. Ob eine Tat vorliegt oder nicht, bestimmt sich nicht mehr nur nach Zeugenaussagen, sondern vor allem nach Prüfergebnissen. Das Messen beginnt bei der Blutalkoholbestimmung, erstreckt sich über die Messung von Stoffinhalten (Flüssigkeitschromatographie und Spektralanalyse) bei verbotenen Arznei- und Betäubungsmitteln bis hin zur Bestimmung der Umweltgefährlichkeit bei sog. “Grenzwertüberschreitungen” (umweltgefährdende Abfallbeseitigung, Luft- und Gewässerverunreinigung). Rechner setzen die gemessenen Werte erst in die Alltagssprache des Rechts ein und bezeichnen ab 0,8 Promille die absolute Fahruntüchtigkeit oder ab 2,0 Promille den Hinweis auf den völligen Ausschluss der Schuldfähigkeit.
Der durch Kalender, Wagen und Kassen formierte Justizapparat kann nach übereinstimmender Beobachtung mit einem Wort gekennzeichnet werden: Er ist langsam. Langsamkeit ergibt sich einfach schon aus dem werkzeugmäßigen Ablauf der maschinellen Funktionen: Es braucht Zeit, ehe ein Antrag aufgenommen, Kosten dafür angefordert, ihre Zahlung registriert, die Akten vorgelegt und der Zeitpunkt der Entscheidung notiert sind. Heute wird elektronische Datenverarbeitung als Mittel gegen die herkömmliche Langsamkeit verstanden. Tatsächlich beschleunigen Datenbanken die justizielle Textproduktion. Sie verknüpfen Begründungstextbausteine und Adressatenfunktion zu neuen, persönlich wirkenden, aber wie immer unpersönlich hergestellten Hypertexten. Das gesamte Mahnwesen, der Grundbucheintrag oder die Führung des Handelsregisters können elektronisch beschleunigt und perfektioniert werden. Dennoch ändert das nichts an der Langsamkeit des Justizapparats insgesamt. “Langsamkeit” heißt semiotisch, dass Handlungsvollzüge in viele, kleingearbeitete Zeichenhandlungen verkettet werden, deren Abfolge festliegt und erwartet werden kann. Nichts taucht überraschend auf, und nichts verschwindet plötzlich. Allerdings steht das Gedächtnis des Justizapparats mit der individuellen Erinnerung nicht mehr in Einklang. Nicht nur durch Elektronik sollte das verändert werden. Die maschinelle Beschleunigung hat historisch zur Einrichtung der Guillotine geführt, denn die Revolutionäre forderten, dass in allen Fällen, in denen die Todestrafe verhängt werde, die Strafart die gleiche sein solle; “der Verurteilte soll enthauptet werden; dies geschieht mit Hilfe einer einfachen Mechanik”, heißt es in Guillotins Gesetzesvorlage für die Nationalversammlung (Arasse 1987, 21). Die überraschend schnelle Maschine, die der französische Arzt Dr. Louis dann konstruierte, veränderte die Anzahl, die Dichte und die Verbreitung des Strafens. Die Vollstreckung konnte massenhaft praktiziert werden, sie sollte eine gesellschaftsverändernde, “reinigende” Wirkung haben und alle in gleicher Weise treffen. Die Guillotine hat das Strafensystem verändert, und die schnell vollzogene Vollstreckung hat bis heute ihre Anziehungskraft nicht verloren. Dass die Langsamkeit des Justizapparats demgegenüber nicht nur ein unvermeidlicher Nachteil ist, muss mit diesem Beispiel erinnert werden.
Literatur:
Arasse, Daniel (1987), La Guillotine et l´imaginaire de la terreur. Deutsch von C. Stemmermann. Frankfurt a.M. 1988.
Arasse, Daniel (1987), La Guillotine et l´imaginaire de la terreur. Deutsch von C. Stemmermann. Frankfurt a.M. 1988.
Baruzzi, Arno (1990), Freiheit, Recht und Gemeinwohl. Grundfragen einer Rechtsphilosophie. Darmstadt.
Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen: Mohr.