Regel

Regeln stellt man sich als Regelmäßigkeiten des Handelns vor. „Man stellt sie sich so vor“ heißt semiotisch zweierlei: Der Akteur, Autor oder Sender dieser Vorstellungen ist nicht identifiziert. Es bleibt unklar, ob Menschen, die von sich behaupten, sie handelten nach Regeln, diese Regeln zu Maximen, also aktuellen, situativ geltenden Normen ihres Handelns machen oder sich wünschen, sie täten es, oder meinen, ihr Handeln ließe sich so beschreiben. Semiotisch sind Regeln Zeichenkonstruktionen des Beobachters, der sie in der Regel nachträglich und mit normativem wie empirischem Anspruch bildet. Regeln beschreiben dann für Argumentationen normales Verhalten. der seit Stephen Toulmin (Uses of Argument, 111) gebräuchlichen Schematisierung werden zwei Regelbestandteile unterschieden: Rechtfertigungen (warrants: W) und Absicherungen (backing: B), die in einem gestuften Verhältnis zueinander stehen:

Daten                →         Conclusion
W: Rechtfertigung

B: Absicherung

Rechtfertigungen formuliert Toulmin immer mit allgemeinem Anspruch als Wenn-/dann-Sätze, während Absicherungen stichwortartig bleiben. Das hat eine entscheidende Bedeutung.

Das Schema hat weitgehende Anerkennung gefunden und wird heute bei allen textbezogenen Argumentationsanalysen gebraucht. Analysiert man einzelne Urteile, so beobachtet man, dass formulierte Wenn-/dann-Sätze mit dem Anspruch einer Regel selten ausdrücklich auftauchen und sich sogar der Versuch, sie nachträglich zu formulieren, recht schwierig gestaltet. Auch wenn der Übergang von Daten zu Schlussfolgerungen nur durch Regeln legitimiert werden kann, lassen sich Regeln in Urteilen gar nicht einfach identifizieren. Man pflegt die Regelabstinenz mit dem römisch-rechtlichen Rat zu erklären, dass obiter dicta zu vermeiden seien. Man bewege sich „hart am Fall“. Jede Form der Regel muss aber über den geregelten Fall hinausgehen. Wenn die Regel lehrreich wäre, würde sie den Problemgehalt erschöpfen, den ein Fall bietet, ihn – wie man manchmal in der Ausbildung sagt – „lösen“. Dass dem Fall immer Probleme beigegeben sind, die über formulierte Regeln hinausgehen, zeigt sich daran, dass er jenseits einer Entscheidung zu denken aufgibt. Wer obiter dicta vermeidet, beschränkt die Entscheidung auf die Situation und verzichtet auf Abstraktionen, die man in einem Wenn- und einem Dann-Satz formulieren könnte.

Das Wenn-/dann-Schema wird in der Rechtslogik zu Symbolen der Art: p und q – verkürzt. Der erste Teil (p) umfasst normalerweise den Tatbestand, der zweite (q) bezeichnet die Rechtsfolge. Aus dem Tatbestand folgt dann die Rechtsfolge, oder: “if p then q (p → q), the symbol p stands for a proposition stipulating a set of operative facts, q for the legal consequence which is to follow” (Mac Cormick, Legal Reasoning, 45). Mit den Buchstaben p und q nimmt man Abschied von der Kontextualität des Falls, weil auch der Text nicht mehr ausgedrückt wird. Die Verweisung des einen auf den anderen Satzteil erscheint jetzt als allein entscheidend. Aufgrund solcher Verweisungen erhält die Rechtsdisziplin den Charakter von Genauigkeit, Sachlichkeit und Fachlichkeit. Ist von Regeln die Rede, wird nicht mehr an Fälle assoziiert, sondern jeder Fall erscheint nur noch als ein Paar von Sachverhalt und Rechtsfolge. Diese Paarbeziehung muss man kennen, man muss also das Fach und seine Zuordnungsweisen erlernt haben, und wenn man sie erlernt hat und die Folge zu benennen weiß, dann kann man auch Gefühle von Vernunftgründen, Persönliches von Sachlichem und Beliebiges von Zwingendem unterscheiden. Deshalb gibt die Jurisprudenz ihren Schülern, bevor sie einen Fall entscheiden, die Anweisung: Suche nach einer Anspruchsgrundlage! Suche zuerst nach dem zweiten Teil einer Norm, nach der Folge und frage von dort aus nach dem Tatbestand als dem Vorausgesetzten. Juristen vom Fach erzählen nicht von vornherein Fälle, sondern geben ihrer Rede die Form: Etwas wird beansprucht. Das rechtfertigt sich aus dem gegebenen Fall, den das Gericht feststellt. Hinsichtlich der Voraussetzungsseite der Norm, dem Tatbestand, bleibt es dann bei der methodisch schlichten Anweisung, den Tatbestand eben aus der Tat abzulesen und die Tatsachen ohne weitere Zutaten in eine Feststellung zu übersetzen.

Aber wer mit der Rechtsdisziplin nach Sachlichkeit strebt, scheitert. Der Moment der höchsten Sach- und Fachkunde ist gleichzeitig Ansatz der schärfsten Kritik – jedenfalls in der juristischen Moderne. Es gibt dafür ein mengentheoretisches Gedankenspiel, das Robert Birmingham („Into the Swamp“: More on Rules) erstmals vorgestellt hat. Die Regel ist – wie gesehen – eine Form, die zwei Sätze oder Satzreihen verbindet. Sie ist ein Satz über Sätze, und es ist keine spielerische Überlegung zu fragen, wie viele Regeln es gibt, wenn die Regel zwei Sätze verbindet. Sätze gibt es mehr, als es Worte gibt, man kann Sätze zwar zählen, aber es ist unbekannt, wie viele Sätze man in Fällen zählen kann, unendlich viele, darf man vermuten. Auch Rechtsfolgen sind nicht abzählbar, wenngleich man sie jedenfalls zählen kann. Es gibt weniger Rechtsfolgen als mögliche Sätze. Birmingham (Into the Swamp, 58) hat nun daran erinnert, dass die Menge zweier jeweils abzählbar unendlicher Mengen von Sätzen – nämlich den Fällen einerseits und den Folgen andererseits – überabzählbar unendlich ist. Man gelangt zu einem seltsam anmutenden mengentheoretischen Wissen über das Nichtwissen in der Sprache, wenn es heißt: “But there are only countably many pieces of language. That is, some rules, indeed almost most of them, cannot be expressed”. Wenn überabzählbar Unendliches auf eine endliche Menge von Sätzen reduziert werden soll, bleiben einige Kandidaten übrig. Einige Regeln können sprachlich nicht ausgedrückt werden, vielleicht sogar die meisten nicht. Vielleicht kann das meiste im juristischen Regelwissen nicht ausgedrückt werden (Birmingham, Recht als Syntax, 203).

Literatur:
Birmingham, Robert: Into the Swamp. More on Rules, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1978, 49-62 (https://www.jstor.org/stable/23678990?seq=1#page_scan_tab_contents).
ders.: Recht als Syntax, Zeitschrift für Semiotik 2 (1980), S. 197-206.

Toulmin, Stephen E.: The Uses of Argument, Cambridge 1958.