Die Farbe Rot ist semiotisch codiert. Sie gibt der Herrschaft Ausdruck und sie denunziert gleichzeitig die Verschiebung und Verfälschung der Wahrheit durch Herrschaft. Rote Kleidung drückt vornehmen Stand aus, weshalb die Kurfürsten des Reichs “alle rot mit haermli gefuetret, und rot hohe huetlin auf” erscheinen. Gleichzeitig kennzeichnet die Farbe Rot in der Gerichtsbarkeit jene Orte, an denen Gericht gehalten wird. Gericht wird danach unter dem roten Baum oder der roten Tür gehalten. Rot ist aber auch die Farbe der Dienstkleidung des Scharfrichters, rote Kleider sollen gelegentlich auch die Verurteilten auf dem Weg zur Hinrichtung getragen haben. Überhaupt wird Röte zur Symbolfarbe der Hinrichtung. Die “Rothe bank” ist “die banke, worauf die richter des peinlichen Gerichts sitzen”, und das Schwert in roter Scheide galt als Symbol der Blutgerichtsbarkeit. Der Obrist-Richter pflegt bei der Ausführung der zum Tode verurteilten Straftäter zum Gericht “einen rothen geschnitzten stab in handen zu haben”.
Aber der rote Richter ist nur einer, der über Kapitalverbrechen, über Mord und Totschlag zu Gericht sitzt, er verfehlt auch den richtigen Spruch. Die Parabel vom roten Richter stammt von Nietzsche und heißt “Vom bleichen Verbrecher”. Der rote Richter steht dem bleichen Verbrecher gegenüber und weiß noch nicht, wie er sprechen will. Er will sanftmütig sein. “Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer” – fragt Nietzsche – “bevor das Tier nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die grosse Verachtung.” Und was verachtet der Verbrecher? Warum ist die Verachtung gegenüber dem roten Richter so groß? Der Richter will den Verbrecher die über ihn verhängte Strafe abnicken sehen, und der Verbrecher als ziviler Mensch erbleicht darüber. Er erkennt seine Tat nicht mehr. “So spricht der rothe Richter: “was mordete doch dieser Verbrecher? Er wollte rauben? Aber ich sage euch: seine Seele wollte Blut, nicht Raub; er dürstete nach dem Glück des Messers! Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn. “Was liegt an Blut” sprach sie; willst du nicht zum mindesten einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen? Und er horchte auf seine arme Vernunft; wie Blei lag ihre Rede auf ihm, da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.” Der rote Richter hat eine Beziehung zum Blut, die wahnsinnig machen könnte, und er empfiehlt deswegen Motivationen, die vernünftig klingen. Mit dem roten Richter zieht eine verfälschende Vernunft ein. Verfälschung ist ein semantisches Merkmal für rote Richter.
Der belgische Maler James Ensor hat eine Leinwand hinterlassen, die “Der rote Richter” heißt. Sie gibt ein anderes Beispiel für Verschiebung und Verfälschung. Verschoben wird in dieser im Jahr 1900 entstandenen Malerei zunächst einmal die bis dahin übliche, gewohnte Realität. Wir begeben uns in Gespensterland, das Ensor – wie ensorüblich – mit Skeletten ausstattet. Auf der Leinwand wird sichtbar ein Richter – an Barret, Bäffchen und zinnoberroter Robe erkennbar – bedrängt von zwei Skeletten, platziert vor einem bleichen, grau-blau-weißen Nirgendwo-Hintergrund. Diesem Richter läuft der Geifer aus dem Mundwerk, aber er scheint sich dabei nicht wohl zu fühlen. Der kunsthistorischen Kommentierung nach soll dem Bild eine belgische Schwurgerichtsentscheidung aus dem Jahre 1860 zugrunde liegen. Zwei flämische Arbeiter wurden damals des Mordes an einer alten Frau angeklagt und in einem in französischer Sprache geführten Prozess zum Tode verurteilt. Der rote Richter redete in fremder Sprache an den Angeklagten vorbei in einem Urteil, das Klassenjustiz, Minderheitenverachtung und Unwahrheit repräsentierte. Jedenfalls erklärte ein paar Monate später ein anderer Festgenommener, die Hingerichteten seien unschuldig. In Flandern wurde das neben anderen Ereignissen als Anlass für einen Freiheitskampf genommen gegen die Vorherrschaft der wallonischen Kaste, ihrer französischen Sprache und ihrer erpresserischen Justiz.
Unrecht heißt hier nicht, Recht falsch ausgelegt zu haben. Unrecht ist es, was geschieht, bewusst zu verfälschen und falsch zu bezeichnen, auch wenn es aus scheinbarer Menschenliebe geschieht. Der rote Richter ist nicht nur einer, der über Leben und Tod entscheidet, was heute immer noch genug Richter tun. Er ist seiner Aufgabe nicht gewachsen. Er verfälscht die Tat und fingiert, was Juristen akademisch die prozessuale Wahrheit nennen, indem er Sprachbezeichnungen verschiebt. Diese Röte ist eine Einbruchstelle der Semiotik ins juristische Funktionensystem.
Literatur
Friedrich Nietzsche, “Vom bleichen Verbrecher”, in: Zarathustra Erster Teil (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin/ New York 1967 ? 1977, Bd. 4).
Friedrich Nietzsche, “Vom bleichen Verbrecher”, in: Zarathustra Erster Teil (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin/ New York 1967 ? 1977, Bd. 4).
James Ensor, hrg. v. J. Pfeiffer u. M. Hollein. Katalog zur Ausstellung Frankfurt a.M. 17.12.2005-19.3.2006, S. 182