Sachverständige

Der Sachverständige ist prozessual nicht mehr als ein Beweismittel im Gerichtsverfahren, und doch findet durch Sachverständige in einem Verfahren mehr und anderes statt als durch Urkunden, Zeugen und andere Hilfsmittel. Sachverständige füllen eine sonderbare Rolle aus. Sie sind nichtjuristische Gerichtspersonen, angeblich nur ein Beweis- und Hilfsmittel des Gerichts, tatsächlich entscheiden sie aber über das sachliche Ergebnis. Wer gegen das Votum eines Sachverständigen ein Verfahren doch gewinnen will, muss schon den ganzen Tatsachenzusammenhang, über den Beweis erhoben worden ist, für unerheblich erklären. Ansonsten haben solche Versuche in aller Regel keinen Erfolg.

Als Person hat der Sachverständige eigenen Zeichenwert. Er repräsentiert im Unterschied zu den juristischen Beteiligten „die Welt“ oder doch die außerjuristische Wirklichkeit. Seine Hinzuziehung signalisiert schon, dass es so etwas gibt wie „Wirklichkeit“ und die Wirklichkeit im Falle der Hinzuziehung eines Sachverständigen eine eigene Sprecherposition erhält. Das ist auch der entscheidende Verfahrenszug: Die Sprecherpositionen werden vervielfältigt. Neben der Stimme des Klägers, des Beklagten und des Gerichts oder der des Angeklagten und des Staatsanwalts gibt es nun eine dritte oder vierte Ausdrucksweise, deren Gehalt und vor allem deren Ergebnis nicht ohne Weiteres kalkulierbar sind. Sachverständige werden programmgemäß herangezogen in Zivilsachen, wenn es um Schadensersatz oder Schadensverursachung geht oder in Strafsachen, wenn es sich um eine außergewöhnliche Tat handelt, bei der personale Besonderheiten bestehen könnten. Im allgemeinen kann in fast allen Verfahrenslagen ein Sachverständiger mit einer Frage beschäftigt werden, wenn sich nur behaupten lässt, die Fragestellung erfordere besondere Sachkunde.

In der Zeit verzögert der Sachverständige die Entscheidung. Das ist schon eine eigene, nicht unwesentliche Verfahrensleistung. Die Entscheidung über Recht, die Zuteilung des Rechtsprädikats an das behauptete Ergebnis einer Partei, wird zunächst einmal aufgeschoben. Zunächst einmal bleibt das Ergebnis ungewiss. Fachlich muss jeder Sachverständige, der in Rechtsverfahren tätig wird, seine Denk- und Sprechweise umstellen. „Forensische Erfahrung“ nennt man das, und nicht umsonst bilden Fächer, die heutzutage regelmäßig Gerichtsverfahren bedienen, eigene Zweige dafür aus. Psychologie und Medizin erscheinen im Verfahren als „forensische Psychiatrie“. Entgegen der dogmatischen Position als bloße Hilfsperson des Gerichts erweist sich der Sachverständige in Wirklichkeit als Hilfsrichter, an den die Detailfragen des Sachverhalts delegiert werden. Sachverständige erbringen in diesem Zusammenhang eine nicht geringe semiotische Transformationsleistung, indem sie die Aussagen anderer Satzsysteme juristisch entscheidungsorientiert zuschneiden. Der Sachverständige operiert semiotisch als Richter im besonderen Bereich (auch wenn die Prozessdogmatik dazu anderes lehrt). Auf seine Sätze darf das Gericht referieren, als seien sie eigene Feststellungen, d.h. praktisch: Sie können ins Urteil als Textbaustein kopiert werden – und das geschieht regelmäßig. Zwischen Sachverständigen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und die sich über die Art ihrer Differenz nicht selbst verständigen und auf diese Weise die Ergebnisdifferenz beseitigen, kann deshalb juristisch nicht mehr entschieden werden.