Urkunden

Urkunden bilden im juristischen Diskurs das Zentrum. Entstanden aus dem heiligen schriftlichen Text, pflegt die Jurisprudenz heute einen besonderen Begriff der Urkunde. Es handelt sich dabei um die auf einen Autor verweisende, inhaltlich bedeutsame und im Diskurs anerkannte Schrift. Der Tatbestand des Urkundendelikts kehrt in allen gegenwärtigen Rechtsordnungen wieder und beruht auf einem erst in der verfeinerten Diskursordnung möglichen Zeichenverständnis. Neben den schriftlichen Originaltext vom Typ “Testament” treten nämlich nicht nur serielle Texte (Eintrittskarten, Markenzeichen u.a.), sondern auch interpretationsbedürftige sogenannte “Beweiszeichen” wie Preisschilder auf Gegenständen oder Strichzeichen auf Verpackungen. Als Tatbestand vertypt und damit verboten ist die Veränderung solcher Zeichen (“Fälschung” des Gedankeninhalts) wie die geheime Herstellung durch Dritte (“Täuschung” über die Person des Ausstellers). Fälschung und Täuschung sind Musterfälle für die Praxis der Rechtssemiotik. Das Gebot der Authentizität (Wer ist Urheber?) und der inhaltlichen Wahrheit (Was ist geschehen?) werden als Schutz gegen List juristisch etabliert und unterschiedlich ausgestaltet.
Die Rechtsmacht der Urkunde erstreckt sich nicht auf die Richtigkeit des in ihr erklärten Inhalts. Da bei jeder Erklärung nicht nur die Möglichkeit besteht, sie nachträglich ohne Willen des Autors zu verändern und damit zu fälschen, sondern auch die Gefahr, einen gar nicht erklärten Inhalt präsentiert zu hören, muss das Rechtsverfahren als Ganzes Schutz dagegen vorsehen (Eco 1990, 226). Das Verbot für Zeugen zu lügen und das Gebot, sich an das zu erinnern, was man noch weiß, entsprechen sich. Die Aussage- und Eidesdelikte weisen ebenso wie die Betrugs- und Urkundendelikte auf die Täuschungsanfälligkeit der juristischen Diskursordnung hin. Der Wille zur Wahrheit verlangt (normativ) wahrheitsgemäße Erklärungen im Zivilprozess selbst dann, wenn sich eine Prozesspartei damit selbst schadet.
Die Unterschrift garantiert die “Echtheit” einer Urkunde. Das Unterzeichnen eines Schriftstücks ist bis heute eine rechtlich prominente Leistung. Unterzeichnet wurde ursprünglich mit dem Namen, dem Prädikat “subscripsi” und dem Siegelabdruck (Fraenkel 1992, 34). Diese römische Praxis wurde im privaten Rechtsverkehr dadurch formalisiert, daß die französischen Könige im 15. Jahrhundert den Vertragsschluß zweier Privatleute durch dafür ernannte “Notare” notifizieren ließen, indem diese Namen und Siegel beifügten. Der Minister der Justiz ist und heißt “Siegelbewahrer” (garde des sceaux; Fraenkel 1992, 93). Die französische Justiz bediente sich Schreiben, die – von einem Staatssekretär gezeichnet und mit dem königlichen Siegel versehen – lettres de cachet hießen. Das gesiegelte königliche Schreiben ersetzte im vorrevolutionären Frankreich das schwerfällige, förmliche Prozessverfahren. Was der König siegelte, war rechtens (Farge und Foucault 1982, 11ff). Erst die Revolution nahm den Siegeln ihre juristische Bedeutung. Revolutionär war die Ersetzung des Siegels durch die schlichte, kurze Unterschrift, die sich in der Regel auf den Nachnamen beschränkt. Mit der eigenhändigen Unterschrift wird die Position des Autors (Foucault 1971, 28) zeichenpraktisch begründet. Sie ist einfach und in einer alphabetisierten Gesellschaft jedermann zugänglich. In der Unterschrift verbinden sich zwei rechtssemiotische Basisleistungen: Individualisierung und Legitimation. Der Namenszug individualisiert, weil er von der bereits isolierten Subjektposition Gebrauch macht. Zwar wäre jeder Text unter Heranziehung seiner Entstehungsbedingungen ebenfalls einem einzelnen Autor zuzuordnen, der unterschriebene Text leistet diese Zuordnung aber in sich selbst. Er vollzieht sie mit dem Namen als prominentem Merkmal und einem individuell semiotisch variierten Schriftzug, der zur “Paraphe” verkürzt werden kann (Fraenkel 1992, 41). Gleichzeitig wird eine Billigung des voranstehenden Inhalts mit jeder Unterschrift verbunden. Das erweist sich zwar später oft genug als Fiktion, tut aber der Realität im Zeitpunkt der Unterschrift keinen Abbruch. Der Unterzeichnende wird als Sender einer Botschaft identifiziert. Er kann deren Inhalt nicht mehr ohne weiteres negieren, sondern nur noch interpretieren. Wer unterschrieben hat, ist gebunden, ohne dass dies von außen betont werden muss. Der Unterzeichner fühlt sich gebunden. Trotz dieser semiotischen Basisleistungen sind keineswegs alle sogenannten “Rechtsgeschäfte” unterschriftspflichtig. Schriftform wird für Schenkungen verlangt, notarielle Schriftform für Grundstücksgeschäfte oder Gesellschaftsgründungen. Vor dem Hintergrund der bindenden Unterschrift, die verwendet werden kann (heute regelmäßig in Kauf-, Miet- oder Arbeitsverträgen), sind die meisten Rechtsgeschäfte nach der Ordnung des Diskurses formfrei. Das erleichtert die semiotische Bemächtigung. Wer einen Arbeitnehmer nicht beschäftigen wollte und einen schriftlichen Vertrag nicht geschlossen hat, kann doch an einen Arbeitsvertrag gebunden sein, weil Schriftform dafür nicht erforderlich ist. Über die Semiotik des Unterzeichnens werden auch die nicht unterzeichneten und nicht verschriftlichten Akte so behandelt, als seien sie in Akten in vorgeschriebener Form enthalten. Der Rechtsdiskurs erklärt nur noch die Zuordnungsmöglichkeit für maßgeblich und löst sich von der rituellen Bedeutung der Unterschrift.
Literatur:
Eco, Umberto (1992), Die Grenzen der Interpretation. München.
Fraenkel, Béatrice (1992), La signature. Genèse d´un signe. Paris.
Farge, Arlette, und Foucault, Michel (1982): Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille. dt.: Frankfurt a.M. 1989.