Verfassungen, die sich auch selbst so nennen, kennt erst die moderne Rechtsgeschichte. Die Vereinigten Staaten von Amerika gaben sich als erste und ausdrücklich eine Verfassung. Heute pflegen Verfassungen einen Grundrechts- und einen Staatsorganisationsteil zu haben. Soweit es um die staatliche Organisation geht, wird diese in Verfassungstexten erstmals normativ geregelt. Die Verfassungsbewegung durchzieht das gesamte 19. Jahrhundert – insbesondere in Deutschland – und verwandelt die Erbmonarchien zunächst in konstitutionelle, dann in Republiken. Der Grundrechtsteil erschien zunächst sekundär und wird erst nach den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts die Hauptsache einer Verfassung, als die sie – so im deutschen „Grundgesetz“ – am Anfang steht. Semiotisch gesehen erschöpft sich der Sinn einer Grundrechte-Verfassung zunächst einmal in der Umkehrung der Sender/Empfänger-Beziehung: Nicht der Bürger sieht sich in der Rolle des Rechtsadressaten, der dem staatlichen Normbefehl unterliegt, sondern adressiert wird der Staat, der zu Lasten des Bürgers bestimmte Eingriffsbefugnisse nicht überschreiten darf und zu Leistungen verpflichtet wird. Die Abwehrrechte werden unter dem Gebot des Sozialstaats durch Leistungsansprüche gegen den Staat ergänzt. Die Berufsfreiheit gewährt ein Recht auf Zugang zu Berufsausbildungen, das Rechtsstaatsprinzip verlangt die Einrichtung eines Justizdispositivs einschließlich aller weiteren Gebrauchsmöglichkeiten (siehe dort). Wenn das die zweite Wirkung von Grundrechten ist, so interessiert seit geraumer Zeit vor allem die sog. „Drittwirkung“ als Grundrechtsgeltung gegenüber und zwischen Privatpersonen, die keine hoheitliche Gewalt ausüben. Mit den verfassungsgemäß verbürgten Grundrechten und ihren notorischen Unklarheiten zieht für eine Mehrzahl von Beteiligten Hoffnung in den ansonsten trockenen und trüben Justizbetrieb ein.
Der Glanz der Verfassung erleuchtet die unbefriedigenden Antworten auf alle Fragen nach dem Rechtszeichen. Die grundrechtliche Dekonstruktion des Gesetzestexts scheint den Rechtstext zu relativieren. Mit einer gewissen Überraschung ist dabei zu vermerken, dass die Magie des Rechtszeichens weiter wirkt (Lachmayer 1988), und zwar gegenwärtig über die von Derrida (1984) freigelegte Erklärungsfiktion der Verfassung, die von Philosophen wie Lyotard (1983: 209ff) oder Habermas (1992: 151ff), von Juristen wie Müller (1984) und Alexy (1986) bis hin zu Rechts- und Justizkritikern wie Milovanovic (1992: 243ff) und Kennedy (1997: 324ff) als Thema behandelt und als Wert geschätzt wird, auch wenn der Zugriff auf mögliche Verfassungsinhalte nicht vergleichbar erscheint. Das gerade macht den gegenwärtigen Glanz des Rechtszeichens aus. Es wird offen als Signifikant mit mehreren möglichen Signifikaten vorgestellt (Rosenfeld 1998). Anders als in der Juristenfakultät zu Bologna erscheinen Verfeinerung und Systembildung zweitrangig. Aber es sind nach wie vor Texte, die am Anfang gesellschaftlicher Umbrüche stehen. In dem Maße, in dem plurale Antworten auf drängende Fragen gegeben werden, verlagert sich das Interesse von den möglichen Antworten auf den Verfassungsgehalt der Fragestellung. Der amerikanische Rechtstheoretiker Ronald Dworkin gründet die moralischen Fragen des Rechts auf das Konzept der Bürger- und Menschenrechte und hat damit einen Glanz erzeugt, den spezialgesetzliche Arbeit derzeit nicht entfalten kann. Gegen den üblichen Angriff auf die „Vagheit“ von Verfassungsartikeln verteidigt Dworkin die notwendige Differenz zwischen Rechtsbegriff (concept) und regelgeleitetem Rechtsprogramm (conception), die er an einem zentralen Topos wie „Fairness“ verdeutlicht: „When I appeal to the concept of fairness I appeal to what fairness means, and I give my views on that issue no special standing. When I lay down a conception of fairness, I lay down what I mean by fairness, and my view is therefore the heart of the matter. When I appeal to fairness, I pose a moral issue; when I lay down my conception of fairness I try to answer it“ (Dworkin 1977: 135). Erst eine solche Differenz mache es möglich, dem Supreme Court die Frage vorzulegen, ob der Vollzug der Todesstrafe eine grausame und unübliche Strafart sei, obwohl die Todesstrafe nach dem Rechtsprogramm der Verfassungsväter zu den selbstverständlichen Sanktionen gehörte. „Verfassunggebende Gewalt“ – bestimmt Müller (1995: 19) – deshalb als „Normativität im inhaltsreichen Sinn, die aber, als Normativität, nicht direkt-faktisch, sondern nur indirekt-maßstäblich gemeint sein kann …“. Die Beschreibung dessen, was Recht gerade sei, und der Maßstab dafür, was es sein solle, geraten damit in eine kreisförmige Bewegung.
Literatur:
Alexy, Robert (1986): Theorie der Grundrechte. Frankfurt a.M.
Derrida, Jacques (1984): Otobiographies. L´enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre. Paris-
Dworkin, Ronald (1977): Taking Rights Seriously. Cambridge.
Kennedy, Duncan (1997): A Critique of Adjudication (fin de siècle). Cambridge-
Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992
Lachmayer, Friedrich (1988): “Recht als säkularisierte Magie”. In: Lange-Seidl, Annemarie (ed.), Zeichen und Magie. Akten des Kolloquiums der Bereiche Kultur und Recht der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, 1986. Tübingen.
Lyotard, Jean-François (1983): Le différend. Paris: Minuit. Deutsch von J. Vogl: Der Widerstreit. München 1987
Milovanovic, Dragan (1992): Postmodern Law and Disorder. Psychoanalytical Semiotics, Chaos and Juridic Exegeses. Liverpool.
Müller, Friedrich (1995): Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes. Elemente einer Verfassungstheorie V. Berlin.
Rosenfeld, Michel (1998): „The Identity of the Constitutional Subject“. In: Goodrich, Peter, und Carlson, David Gray (eds.), Law and the Postmodern Mind. Ann Arbor: 143-174.
Verfassungen, die sich auch selbst so nennen, kennt erst die moderne Rechtsgeschichte. Die Vereinigten Staaten von Amerika gaben sich als erste und ausdrücklich eine Verfassung. Heute pflegen Verfassungen einen Grundrechts- und einen Staatsorganisationsteil zu haben. Soweit es um die staatliche Organisation geht, wird diese in Verfassungstexten erstmals normativ geregelt. Die Verfassungsbewegung durchzieht das gesamte 19. Jahrhundert – insbesondere in Deutschland – und verwandelt die Erbmonarchien zunächst in konstitutionelle, dann in Republiken. Der Grundrechtsteil erschien zunächst sekundär und wird erst nach den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts die Hauptsache einer Verfassung, als die sie – so im deutschen „Grundgesetz“ – am Anfang steht. Semiotisch gesehen erschöpft sich der Sinn einer Grundrechte-Verfassung zunächst einmal in der Umkehrung der Sender/Empfänger-Beziehung: Nicht der Bürger sieht sich in der Rolle des Rechtsadressaten, der dem staatlichen Normbefehl unterliegt, sondern adressiert wird der Staat, der zu Lasten des Bürgers bestimmte Eingriffsbefugnisse nicht überschreiten darf und zu Leistungen verpflichtet wird. Die Abwehrrechte werden unter dem Gebot des Sozialstaats durch Leistungsansprüche gegen den Staat ergänzt. Die Berufsfreiheit gewährt ein Recht auf Zugang zu Berufsausbildungen, das Rechtsstaatsprinzip verlangt die Einrichtung eines Justizdispositivs einschließlich aller weiteren Gebrauchsmöglichkeiten (siehe dort). Wenn das die zweite Wirkung von Grundrechten ist, so interessiert seit geraumer Zeit vor allem die sog. „Drittwirkung“ als Grundrechtsgeltung gegenüber und zwischen Privatpersonen, die keine hoheitliche Gewalt ausüben. Mit den verfassungsgemäß verbürgten Grundrechten und ihren notorischen Unklarheiten zieht für eine Mehrzahl von Beteiligten Hoffnung in den ansonsten trockenen und trüben Justizbetrieb ein.
Der Glanz der Verfassung erleuchtet die unbefriedigenden Antworten auf alle Fragen nach dem Rechtszeichen. Die grundrechtliche Dekonstruktion des Gesetzestexts scheint den Rechtstext zu relativieren. Mit einer gewissen Überraschung ist dabei zu vermerken, dass die Magie des Rechtszeichens weiter wirkt (Lachmayer 1988), und zwar gegenwärtig über die von Derrida (1984) freigelegte Erklärungsfiktion der Verfassung, die von Philosophen wie Lyotard (1983: 209ff) oder Habermas (1992: 151ff), von Juristen wie Müller (1984) und Alexy (1986) bis hin zu Rechts- und Justizkritikern wie Milovanovic (1992: 243ff) und Kennedy (1997: 324ff) als Thema behandelt und als Wert geschätzt wird, auch wenn der Zugriff auf mögliche Verfassungsinhalte nicht vergleichbar erscheint. Das gerade macht den gegenwärtigen Glanz des Rechtszeichens aus. Es wird offen als Signifikant mit mehreren möglichen Signifikaten vorgestellt (Rosenfeld 1998). Anders als in der Juristenfakultät zu Bologna erscheinen Verfeinerung und Systembildung zweitrangig. Aber es sind nach wie vor Texte, die am Anfang gesellschaftlicher Umbrüche stehen. In dem Maße, in dem plurale Antworten auf drängende Fragen gegeben werden, verlagert sich das Interesse von den möglichen Antworten auf den Verfassungsgehalt der Fragestellung. Der amerikanische Rechtstheoretiker Ronald Dworkin gründet die moralischen Fragen des Rechts auf das Konzept der Bürger- und Menschenrechte und hat damit einen Glanz erzeugt, den spezialgesetzliche Arbeit derzeit nicht entfalten kann. Gegen den üblichen Angriff auf die „Vagheit“ von Verfassungsartikeln verteidigt Dworkin die notwendige Differenz zwischen Rechtsbegriff (concept) und regelgeleitetem Rechtsprogramm (conception), die er an einem zentralen Topos wie „Fairness“ verdeutlicht: „When I appeal to the concept of fairness I appeal to what fairness means, and I give my views on that issue no special standing. When I lay down a conception of fairness, I lay down what I mean by fairness, and my view is therefore the heart of the matter. When I appeal to fairness, I pose a moral issue; when I lay down my conception of fairness I try to answer it“ (Dworkin 1977: 135). Erst eine solche Differenz mache es möglich, dem Supreme Court die Frage vorzulegen, ob der Vollzug der Todesstrafe eine grausame und unübliche Strafart sei, obwohl die Todesstrafe nach dem Rechtsprogramm der Verfassungsväter zu den selbstverständlichen Sanktionen gehörte. „Verfassunggebende Gewalt“ – bestimmt Müller (1995: 19) – einerseits als „Normativität im inhaltsreichen Sinn, die aber, als Normativität, andererseits nicht direkt-faktisch, sondern nur indirekt-maßstäblich gemeint sein kann …“. Die Beschreibung dessen, was Recht gerade sei, und der Maßstab dafür, was es sein solle, geraten damit in eine zirkelhafte Bewegung.
Literatur:
Alexy, Robert (1986): Theorie der Grundrechte. Frankfurt a.M.
Derrida, Jacques (1984): Otobiographies. L´enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre. Paris-
Dworkin, Ronald (1977): Taking Rights Seriously. Cambridge.
Kennedy, Duncan (1997): A Critique of Adjudication (fin de siècle). Cambridge-
Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992
Lachmayer, Friedrich (1988): “Recht als säkularisierte Magie”. In: Lange-Seidl, Annemarie (ed.), Zeichen und Magie. Akten des Kolloquiums der Bereiche Kultur und Recht der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, 1986. Tübingen.
Lyotard, Jean-François (1983): Le différend. Paris: Minuit. Deutsch von J. Vogl: Der Widerstreit. München 1987
Milovanovic, Dragan (1992): Postmodern Law and Disorder. Psychoanalytical Semiotics, Chaos and Juridic Exegeses. Liverpool.
Müller, Friedrich (1995): Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes. Elemente einer Verfassungstheorie V. Berlin.
Rosenfeld, Michel (1998): „The Identity of the Constitutional Subject“. In: Goodrich, Peter, und Carlson, David Gray (eds.), Law and the Postmodern Mind. Ann Arbor: 143-174.